: M wie Massen-medium
■ Claude Chabrols Hommage an Fritz Lang „Dr. M“
Ein französischer Produzent (Francois Duplat) läßt aus einer deutschen Story (von Thomas Bauermeister) ein englisches Drehbuch (Solace Mitchell) fertigen und bittet einen französischen Regisseur (Claude Cabrol), das Ganze mit Hilfe von amerikanischen, deutschen und englischen Schauspielern in Berlin zu verfilmen. Das Ergebnis: Dr. M von Claude Chabrol, pünktlich zum 100. Geburtsjahr von Fritz Lang, seit einer Woche in den bundesdeutschen Kinos und ab heute auch in der DDR zu sehen. Dr. M ist ein Euro-Film: Das Geld kommt aus Deutschland, Frankreich und Italien, gedreht wurde dennoch auf englisch: Damit - so der Produzent - das amerikanische Publikum auch den Eindruck hat, seine eigene Sprache zu hören. Das deutsche „Original“ ist in Wahrheit also eine Synchronfassung: deutsche Schauspieler sprechen holprig-steife Übersetzungen aus dem Englischen - womit nichts gegen Synchronisation gesagt sein soll, sondern nur gegen eine, die keine Sekunde vergessen läßt, daß Film ein Produkt der Arbeitsteilung ist.
Jürgen Wohlrabe (CDU), Chef des Dr. M-Verleihs „Jugendfilm“ und Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses sprach zur Premiere am Kudamm feierliche Worte, und hinterher gab es höflichen Applaus der zahlreich geladenen Gäste aus Berlins Medien- und Filmwelt. (Die taz war von „Jugendfilm“ übrigens nicht eingeladen, aber ich solle das nicht politisch nehmen, meinte hinterher die Pressefrau; daß Chabrol in seinem Science-fiction eindeutig die taz - als Zeitung der Zukunft? - verwendet, hatte sie auch nicht bemerkt). Da stand Chabrol auf der Bühne des Berliner Cinema Paris und blinzelte hinter seinen Brillengläsern, als frage er plötzlich, ob er da nicht in schlechte Gesellschaft geraten sei...
Es geht um die Macht der Medien. Um mörderische Manipulation im Moloch Großstadt: Chabrols Dr. M ist kein Hypnotiseur mehr wie Langs Mabuse, er ist Chef von Matermedia. Gespielt von Alan Bates als eleganter Bösewicht, mit einem Herzen aus Metall. Ihm gehören die Bildschirme, die Videowände an allen Ecken der Stadt, die Fernsehanstalt und der Ferienclub - in dem die Gäste einer Art Hirnwäsche unterzogen werden - die Diskothek und die Spielbank und das Gesicht von Sonja Vogler (Jennifer Beals), das von all diesen Bildschirmen, Reklamewänden und Videotafeln auf die Berliner einredet: „Es ist Zeit zu gehen.“ Die Folge: eine mysteriöse Selbstmordwelle, die die Stadt befällt wie ein Virus, Panik in Berlin, Massenfluchten.
Der Rest spielt sich genauso ab wie in Chabrols vorletztem Film Masken: Junger Liebhaber (Jan Niklas) rettet arme Vollwaise (Jennifer Beals) aus den Klauen des Bösewichts, eben Dr. M(arsfeldt)s. Nur strahlt Jan Niklas mit ewig zerknautschter Miene und unrasiertem Kinn bestenfalls den zweifelhaften Charme eines Tatort-Assistenten aus, und Jennifer Beals hat zwar große Augen und ein hübsches Gesicht, aber eine geheimnisvolle Schönheit (wie Anne Brochet in Masken), die halb Berlin in Bann ziehen könnte, ist sie keineswegs.
Verantwortlich für Chabrols Scheitern mit Dr. M sind jedoch nicht die schlechten Schauspieler und ist auch nur teilweise der Euro-Mischmasch, der die Handschrift des Regisseurs nahezu unkenntlich macht. Zu befürchten ist, daß Chabrol selbst es so wollte: Einmal das Böse voll ausspielen. Chabrols Stärke ist das Grauen, das in den Sofaritzen sitzt, das Böse im bürgerlichen Wohnzimmer bei Wahrung der Tischsitten, die Mordgelüste bei schwerem Bordeaux und Hühnchen in Essig. Das bourgeoise Milieu, das vor Anstand und Höflichkeit nur so trieft, gewissermaßen zwischen den Bildern als mörderisch verlogen zu entlarven, daran hatte Chabrol seine kindische Lust, und die (politische) Moral gab's gratis dazu.
Diesmal hat er das Böse (und die Moral) in den Vordergrund gerückt. Diesmal wollte er gnadenlos sein: ein Thriller, in dem der Liebesakt zwischen Sonja und ihrem Retter nicht nur tatsächlich gezeigt, sondern durch blitzschnelle Einblendungen von Kriegsszenarien und verstümmelten Leichen konterkariert wird, damit wir alle begreifen, daß es Chabrol jetzt um Liebe und Tod geht. Ein hektischer, nervöser Film, in dem die Geräusche lauter sind als die Dialoge - was nicht nur den Effekt hat, daß man sich von Anfang bis Ende wie in der Disko fühlt, sondern auch den, daß tatsächlich vieles nicht zu verstehen ist. Ein Film, der einen am Gängelband nimmt, unangenehm auf einen einredet wie die Filmmusik von Paul Hindemith. Ein Thriller, der schon im Vorspann mit der Parallelmontage dreier (Selbst-)Morde beginnt und am Ende in rasanter Schnittfolge sämtliche klassischen Suizid-Methoden Revue passieren läßt: Strick, Pistole, Messer, Spritze... Und schon spannt sich der Strick, schon berührt der Lauf die Schläfe, schon ritzt das Messer die Haut, schon hat die Nadel die Vene gefunden - aber Chabrol läßt das Gute siegen, und keiner bringt sich um, und jetzt könnte Schluß sein mit den hektischen Schnitten und überhaupt mit diesem Film, aber es dauert noch viele Minuten, denn es muß noch eine Hymne an das Leben aufgesagt und das Urteil gefällt werden über Dr. M, den Mörder, das böse Massenmedium. Da vergeht jedes Grauen vor lauter Peinlichkeit.
Je gnadenloser Chabrol sein will, desto harmloser wird sein Film. Dazu kommt die Gnadenlosigkeit der Geschichte: Dr. M wurde im November und Dezember in Berlin gedreht, an fast 100 Schauplätzen, vor dem Kaufhaus des Westens und in Kreuzberg, am Kottbusser Tor und an der Oberbaumbrücke, vor Stirlings Wissenschaftszentrum und in vielen IBA -Neubaugebieten. Der Schauplatz also ist das moderne Berlin, mit Hilfe von Videoinstallationen notdürftig auf das Jahr 2000 getrimmt. Aber der Film ignoriert den 9. November. Zwar ist in Chabrols Berlin die Grenze durchlässiger, aber zur Krisensitzung treffen sich die Bürgermeister Ost und West, es gibt Ost- und Westfernsehen - all das wird in zehn Jahren kaum noch existieren. Die Crew wird bei den Dreharbeiten geahnt haben, daß die Tagesschau ihre Kino-Vision schon überholt hat, ändern konnte sie nichts mehr: Dr. M beweist einmal mehr, teils unfreiwillig komisch, die Schwerfälligkeit des Mediums.
Und dennoch blitzt zwischen all der Geschwätzigkeit und Hektik, die das Plumpe nur kaschiert, manchmal der alte Chabrol auf. Die Parallelmontage am Anfang zum Beispiel: eine Frau springt vor die U-Bahn, ein Lastwagenfahrer knallt auf einen Zug mit hochexplosiver Ladung, ein Mann steckt sein Haus in Flammen. Keine Puppe auf den Gleisen, nur die Großaufnahme der einfahrenden U-Bahn und wie das Bild plötzlich wegkippt. Jedesmal, wenn später im Film noch einmal jemand auf den Bahnsteig tritt, jedesmal, wenn eine U -Bahn einfährt, der leise Schreck. Natürlich springt keiner mehr auf die Gleise, man weiß das auch, und dennoch wird einem bang. Ein Effekt, der nicht zugleich verrät, wie er gemacht ist.
Der Rest ist Stückwerk. Kino ist eben mehr als die Summe seiner Einzelteile.
Christiane Peitz
Claude Chabrol: „Dr. M“, frei nach dem Roman „Mabuse, der Spieler“ von Norbert Jacques, mit Jennifer Beals, Jan Niklas, Alan Bates, Euro-Koproduktion 1990, 112 Minuten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen