Nach dem Kalten Krieg: arabische Welt im „Schockzustand“

■ ShireenT. Hunter ist stellvertretende Direktorin für Studien zum Mittleren Osten am „Center for Strategic & International Studies“ in Washington

taz: Das Ost-West-Paradigma dominierte die politischen Kräfteverhältnisse im Nahen und Mittleren Osten. Was passiert nun, nach dem Ende des Kalten Krieges?

Shireen Hunter: Im Nahen Osten hat dies aus arabischer Sicht die eigene Position im Konflikt mit Israel unterminiert. Einerseits unterstützen die Sowjets nicht länger einzelne arabische Länder. Das führt zu so etwas wie einem „Schockzustand“, daß man den großen Supermachtverbündeten verloren hat. Andererseits fühlt man sich auch bedroht durch die massive Immigration sowjetischer Juden nach Israel. Die arabischen Staaten glauben, daß dies Israel noch mehr bestärken wird, seine Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten fortzusetzen. Israel wird als Gewinner dieser historischen Wandlungsprozesse gesehen, kann sich andererseits aber auf Dauer nicht mehr als Bastion gegen sowjetische Einflußnahme in der Region legitimieren.

Wie steht es mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt? Israel ist doch momentan nicht an einer friedlichen Lösung interessiert.

Im Moment ist der Friedensprozeß auf Eis gelegt. Da gibt es keine Bewegung, auch wegen der Regierungskrise in Israel. Andererseits gibt es zunehmend Klarheit in bestimmten Kreisen in Israel wie auch in arabischen Staaten, daß fortbestehendes Mauern nur die extremistischen Kräfte religiöser Provenienz stärken und eine Dynamik entwickeln könnte, die eine Lösung noch mehr erschwert.

Gibt es Veränderungen in der US-amerikanischen Haltung?

Eigentlich hat eher die sowjetische Seite begriffen, daß eine Fortsetzung der Krise im gesamten Mittleren Osten nichts bringt. In der Vergangenheit dachten sie immer, Frieden würde ihre Position unterminieren. Das hat sich geändert, und das wird auch die USA beeinflussen, die ja versuchen, eine Art von Dialog zwischen Israel und den Arabern zu initiieren. Es gibt keine Alternative zu Gesprächen. Im Moment ist die Situation aber so, daß nicht einmal die Supermächte Garanten für einen erfolgreichen Dialog sein können. Letztendlich müssen die Israelis mit den Palästinensern reden. Man kann ihnen nur den Weg ebnen.

Der arabische Gipfel in Bagdad machte wieder einmal deutlich, wie wenig vereint die Mitglieder, ja in welcher (Selbst-)Verständigungskrise sie sind. Bietet die globale politische Dynamik jenseits der Verunsicherung nicht auch Chancen?

Die Araber fühlen sich erst einmal traumatisiert durch die Ereignisse. Aber man sieht andererseits schon, daß der Wunsch stärker wird, mehr zusammenzuarbeiten. Sie wissen, daß auch ihre Länder politisch und gesellschaftlich reformiert werden müssen. Sie müssen sich auch realistischere Wege ökonomischer Entwicklung überlegen.

Was bedeutet in diesem Kontext „Demokratisierung“?

Einige arabische Länder werden demnächst Wahlen abhalten, Algerien zum Beispiel, Jordanien hat gerade gewählt, in Kuwait wird so etwas wie Wahlen abgehalten. Selbst in Ländern wie Syrien oder Irak wird zumindest eine Abschwächung politischer Kontrolle sichtbar. Wenn diese Systeme stabile Gesellschaften mit Unterstützung der Bevölkerung wollen, dann müssen sie Institutionen schaffen, die über die Ein-Mann-Personality hinausgehen. Solche Demokratisierungsprozesse müssen weitergehen. Doch sie bedeuten auch, das sieht man ja jetzt nach der ersten Welle der Euphorie in Osteuropa, die Gefahr größerer Instabilität.

Wenn der Westen an die arabische Welt denkt, dann denkt er an Politiker wie Saddam Hussein oder an den Islam, der wie eine Phalanx die „westliche Zivilisation“ bedroht.

Extremismus, sei er religiöser oder säkularer Natur, ist eine Bedrohung, für die Länder selbst wie auch für Europa. Mir kommt es vor, als ob Europa die sogenannten „islamische Gefahr“ übertreibt und jede Manifestation moslemischen Selbstbewußtseins als eine Bedrohung darstellt. Was de facto eine Bedrohung für Europa ist, ist die anhaltende politisch -ökonomische Krise in vielen Staaten des Mittleren Ostens, die demographische Explosion wie auch ökologische Verwüstungen. Anstatt ein neues Feindbild aufzubauen, sollte man helfen und verhindern, daß Extremismus zunimmt. Das könnte das Fundament einer fruchtbaren Kooperation sein, wo keine Seite sich durch die andere bedroht fühlt.

Interview: Andrea Seibel