Mit Scheuklappen ins Ritual

■ Wie kam's zur Berichterstattung der taz zum 1.Mai? / Anspruch, Umsetzung und Wirklichkeit / Wurde das Fest einfach vergessen? / Überlegungen einer Redakteurin im Nachhinein

Ich persönlich habe mich gewundert, daß die Scheiben bei der taz am nächsten Tag noch heil waren. Und nach den beiden Artikeln zum 1.Mai am Montag davor stand ich mit dieser Verwunderung wohl auch nicht alleine da. Die Empörung, oder zumindest das Unverständnis über unsere Berichterstattung war offensichtlich, nicht nur bei den sogenannten Autonomen, auch innerhalb der taz und in der gesamten linken Szene. Wie es letztendlich dazu kam, kann ich natürlich nicht objektiv, sondern nur aus meiner subjektiven Einschätzung heraus sagen: Bei der Vorbereitung für die Berichterstattung zum 1.Mai überwog das Gefühl, daß wir uns in diesem Jahr nicht wieder auf den reinen Beobachterposten zurückziehen können. Wir wollten nicht, wie es uns die AL so oft vorexerziert, in Agonie verfallen, sondern kritisch Stellung beziehen. Und vor allem wollten wir die an uns herangetragene Besorgnis von Kreuzbergern, die eben nicht direkt zur Szene gehören, aber in jedem Jahr von den Auseinandersetzungen auf der Straße direkt betroffen sind, ernst nehmen. Hinzu kam dann noch so ein diffuses Gefühl: Wenn es in Kreuzberg knallt und die miserablen sozialen Zustände, die dort dazu führen, sind uns durchaus bekannt - wenn es also in Kreuzberg knallt, warum dann immer ritualisiert am 1.Mai? Aus diesen Überlegungen heraus entstand unser Appell: Geht nicht zur Demo und zum Fest, denn damit werdet ihr Wegbereiter für die traditionelle „Randale“. Gleichzeitig verpaßten uns diese Überlegungen riesige Scheuklappen: Wir nahmen gar nicht mehr so recht wahr, daß es dem Festkomitee tatsächlich um ein friedliches Fest ging. Ja, wir machten uns noch nicht einmal die Mühe, im Vorfeld mal längere Zeit mit den Leuten vom Festkomitee zu reden.

Was dabei herauskam, war (nicht nur) ein absoluter journalistischer Fehlgriff: Eine Seite mit flammenden Argumenten (Was für Argumente?, säzzer) gegen Fest und Demo am 1.Mai, ohne daß diese Seite als Meinungsseite gekennzeichnet war und ohne die andere Seite auch nur zu Worte kommen zu lassen. Möglicherweise hat die Empörung über unsere Berichterstattung einen kleinen Teil dazu beigetragen, daß es bei der Demo und beim Fest ruhig blieb (nach dem Motto: Wir werden euch beweisen, daß wir nicht auf Auseinandersetzungen aus sind) (oder auch umgekehrt, säzzer).

Ich weiß nur, daß ich mir am 1.Mai die größte Mühe gab, mich nicht als taz-Redakteurin erkennen zu geben („Feige auch noch“). Auf jeden Fall hat unsere Berichterstattung heftigste Diskussionen am Kneipentisch ausgelöst („Was habt ihr euch eigentlich dabei gedacht?“). Und es wurde wohl selten soviel feuchte Vergangenheitsbewältigung betrieben. Es ist nicht möglich, hier alles aufzulisten und aufzurollen, was letztendlich zum Auseinanderdriften der Szene und Teilen der taz geführt hat - festzuhalten bleibt, daß es so ist. Bei einer der seltenen Gelegenheiten, wo doch noch ein Gespräch stattfand, erfuhr ich vor ein paar Tagen in einem besetzten Haus, daß viele Leute mittlerweile dazu übergegangen sind, den 'Tagesspiegel‘ zu lesen: „Da weiß man, wie die berichten und erwartet nichts anderes.“ Die Erwartungen, die die Szene einmal an uns gestellt hat, erfüllen wir nicht mehr - ob zu Recht oder zu Unrecht, darüber läßt sich sicher weiter streiten. Ich persönlich jedenfalls fühle mich oft in der Zwitterstellung zwischen meinem Wunsch, mich mit der Szene auseinanderzusetzen und ihnen mehr Platz in diesem Blatt einzuräumen und einer vermeintlich objektiven Berichterstattung. Die Szene jedenfalls, so mein Eindruck, erwartet von uns gar nichts anderes mehr - und vielleicht haben deshalb die Scheiben nicht geklirrt.

Martina Habersetzer Die Autorin ist Redakteurin im Berlinteil der ta