Alles wird zu einer Sauferei

■ Erinnerungen an den kürzlich verstorbenen sowjetischen Autor Wenedikt Jerofejew

Wer in den sattsam bekannten Zeiten der sowjetischen Stagnation nicht zu ängstlich war, die illegalen „Samisdat„ -Publikationen zu lesen, ist spätestens Anfang der siebziger Jahre auf einen merk- und denkwürdigen Text Wenedikt Jerofejews Von Moskau nach Petuschki gestoßen. Der Name des Autors sagte einem nichts, der Text hingegen erzählte eine ganze Menge über unser aller Leben in der Verwahrlosung jener Jahre. Jerofejew - eine weitgehend unbekannte Größe ist nun tot: der Kehlkopfkrebs ließ nicht länger mit sich reden, trotz eines japanischen Sprechrohrs, das in Jerofejews Hals hineinpraktiziert wurde.

Was wir alle nur befürchtet haben, spürte Jerofejew am eigenen Leibe: Exmatrikulation, Verfolgung, Isolation. Zur Veranschaulichung sei kurz auf Biographisches verwiesen: geboren 1938 in Kirowsk im hohen Norden der UdSSR, wo sein Vater Bahnhofsvorsteher war. Nach dem Krieg wird sein Vater (wie viele andere auch) zu acht Jahren Zwangsarbeit verurteilt und wird anschließend zum Trinker. Jerofejew junior bewirbt sich 1955 an der Moskauer Lomonossow -Universität für das Fach Russische Sprache und Literatur und wird aufgenommen. Jerofejew: „Ich geriet schnurstracks ins neue Gebäude der Uni auf den Sperlingsbergen und war von allem überwältigt, besonders von der Ankündigung des Majors vom Lehrstuhl für militärische Ausbildung, das Hauptfach sei nebensächlich, entscheidend hingegen sei die militärische Ausbildung, jeder Student, der sich dieser entziehe, werde unverzüglich und unausweichlich exmatrikuliert. Die Worte des Genossen Major gefielen mir nicht, obwohl ich zu den Beststudenten zählte, und ich beschloß, sie auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Er hatte hunderprozentig Recht: im Februar 1957, kurz vor dem Weltjugendfestival, wurde ich aufgrund des Schwänzens von militärischen Übungen im zweiten Studienjahr geschaßt. Doch damals schrieb ich bereits wie besessen an den reichlich pubertären Aufzeichnungen eines Psychopathen und nahm den Vorfall nicht tragisch.“

Ähnliches passiert ihm ein Jahr später an der Pädagogischen Hoschule der Stadt Wladimir, wo er im 2.Semester geschaßt wird. „Jeder Student, der bei einem Kontakt mit mir erwischt wurde, mußte mit sofortiger Exmatrikulation rechnen.“ Selbst das Verbleiben Jerofejews im Gebiet Wladimir wurde als eine Gefahr angesehen: „Aus Wladimir wurde ich mit einem Milizmotorrad hinausbefördert... auf Antrag der Parteiorganisation der Hochschule, deren Sekretär folgendes über mich verlauten ließ: 'Vor Jahren wurde unsere Erde von deutsch-faschistischen Stiefeln getreten, heute tritt sie Wenedikt Jerofejew mit seinen Turnschuhen...'“

Welche Gefahr mochte ein rechtloser Quasi-Student für den Staat darstellen? Wußte mal damals schon Bescheid über die Subversivität des Worts? „Der 20.Parteitag und mein erste Frau fielen zeitlich zusammen, es waren unvergeßliche Zeiten. Damals hatte ich ein knappes Dutzend Leser, was sich bis 1970 praktisch nicht änderte. 1958 machte ich Schluß mit den Gedichten und schrieb Prosa. 1962 wagte ich es, diese Prosa meinen Freunden zu zeigen, und sie meinten, ich schriebe am Evangelium des russischen Existentialisten...“

Angepaßt hat sich Jerofejew nie, lieber war er Kabelleger, „Tatar im Haushaltswarenladen“ oder sonstwo, aber er blieb er selbst, mit seiner Literatur, mit seiner Sprache, die er den „Kollegen auf Zeit“ ablauschte. „Für die Literatur blieb es nicht ohne Folgen, weil sie ja immer eine neue Sprache braucht, mit der alten ist doch nichts los. Bei den Kabelarbeiten erhielt ich hingegen eine praktische Unterweisung in Folklore.“ In dieser - seiner - Sprache ist all das enthalten, was jedermann empfindet und zum Ausdruck bringt: Frustration, Hoffnungslosigkeit, Brutalität und Empfindsamkeit - unzensiert und lebendig. Es ist ein Sprache, die beschreibt, was ist. Was ist denn? Unterdrückung des Willens zur Selbstbestimmung und -darstellung in Wort und Bild. Ein nicht auf ein einziges Land zu beschränkendes Problem: man frage D.A.Prigow, Ilja Kabakow, Jean Genet - muß man noch, um den deutschen Intellektuellen gerecht zu werden, Arno Schmidt anführen, den man nicht mehr fragen kann?

Jerofejews Werk ist schmal. Von Moskau nach Petuschki, ein Poem, wie er den Text nannte (Gogol nannte Die toten Seelen ebenfalls ein Poem), das ihn unter Eingeweihten berühmt machte. „Ich habe es in zwei Wochen geschrieben, nachts. Ich schrieb schnell, vieles hatte ich bereits im Kopf, anderes entstand zufällig, zum Beispiel die Zeit, die man benötigt, um den Text zu lesen, beträgt zwei Stunden 14 Minuten - genauso lange braucht die S-Bahn bis Petuschki. Die Textabschriften waren im Nu vergriffen, und ich wurde bekannt, in einem sehr engen Kreis freilich, in dem man verschiedenes äußerte: von 'das frischeste Wort in der russischen Literatur‘ bis 'grober Unfug‘. Aber die Popularität wuchs, und ich traute mich nicht, eine neue Sache zu schreiben. Außerdem gingen einige Manuskripte verloren, wie zum Beispiel Schostakowitsch und mit ihm die Notizbücher. Nur der Rosanow-Text blieb mir erhalten.“

Die Geschichte mit dem Verlust des Schostakowitsch, eines Alkoholikerromans, der mit dem berühmten Komponisten nichts zu tun hat, erinnert fatalerweise an den Saxophonisten Charlie Parker, der, angetrunken oder angekifft, mehrmals sein Instrument in der U-Bahn liegen ließ. Jerofejew ließ den Text mit zwei Flaschen Wermut in der S-Bahn liegen, wobei ihm der Verlust der zwei Flaschen zunächst mehr leid tat. Trunksucht ist ein universelles Problem, doch die Funktion des Trinkens in der sowjetischen Gesellschaft eine besondere. Wladimir Bukowskij (nicht zu verwechseln mit Charles Bukowski), ein vor Jahren aus der UdSSR ausgewiesener Dissident, beschreibt sie folgendermaßen: „Das, was sich in letzter Zeit bei uns abspielt, läßt sich kaum noch als Alkoholismus bezeichnen, und es ist wohl angebracht, von einer nationalen Psychotherapie zu sprechen: Man betrinkt sich so schnell wie möglich, entweder bis zur Bewußtlosigkeit oder bis zu einer solchen Enthemmung, daß die ganze aufgestaute Wut, der Haß und die Ausweglosigkeit sich gegen den erstbesten entladen. Jeder Umgang wird auf ein Trinkgelage reduziert. Wenn man einen Bekannten trifft, ist es unmöglich, rechtzeitig Schluß zu machen. Ein nüchterner Mann ist verdächtig. Wer weiß, was er zu verbergen hat.“

Die Walpurgisnacht oder Die Schritte des Komturs ist Jerofejews einziges Thaterstück, das er in den achtziger Jharen schrieb. Es spielt in einer sowjetischen psychiatrischen Klinik, in der sich die Insassen in der Nacht zum 1.Mai (Walpurgisnacht) an Methylalkohol betrinken und sterben, womit sie sich der Gewalt des Aufsichtspersonals entziehen. Dazu Jerofejew: „Ich konnte es kaum glauben, aber man hatPetuschki auch im Westen verstanden. Danach etwas zu schreiben, war für mich psychologisch schwierig. Doch da schenkte mir Ende 1984 meine Schwester Stücke von Corneille und Racine. Ich las sie und war angeregt von den klassizistischen Aufbauprinzipien, aber gleichzeitig verwundert darüber, daß es bei Corneille und Racine nichts zu lachen gibt. Und da dachte ich, ich sollte ein klassisches Stück schreiben, aber es muß zum Totlachen sein, und zum Schluß lasse ich die Haupthelden ins Gras beißen, die Schurken hingegen bleiben am Leben - das leuchtet unseren Menschen ein.“

Jerofejews Sprache ist die des OttoNormalverbrauchers wie die eines Intellektuellen, der, wie es in Walpurgisnacht heißt, „maßlos trinkt und dennoch alles weiß“. Und mit solchen Individuen wird entsprechend verfahren.Walpurgisnacht: „Seit einiger Zeit hospitalisieren wir auch diejenigen, die - auf den oberflächlichen Blick keinerlei Symptome einer psychischen Störung aufweisen (...) Diese Menschen begehen in der Regel bis an ihr Lebensende nicht eine einzige asoziale Handlung, nicht ein Verbrechen (...) Aber eben dadurch sind sie gefährlich und müssen behandelt werden. Schon aus Gründen ihres inneren Widerstands gegen die soziale Anpassung.“

„Mehr kann man dazu eigentlich gar nicht sagen“ (Heißenbüttel). Zum Schluß doch noch mal Jerofejew: „Viele fragen mich nach meinen Lehrern. Geistige Lehrer hatte ich nicht, die literarischen sind Sterne, Rabelais. Ja, und Gogol - er ist überall, wohin das Auge gafft. Mit der Sprache ist es auch einfach - meine Antisprache kommt vom Antileben...“

Sergej Gladkich

Die Erzählung „Wassili Rosanow - aus der Sicht eines Exzentrikers“ ist in 'Lettre International‘ Nr.8 auf deutsch erschienen.