Das Geschäft mit dem Muttermilchersatz blüht weiterhin

In Schweden ist eine neue Boykottaktion gegen den Nestle-Konzern im Gang / Nach wie vor stirbt in der Dritten Welt jedes Jahr eine Million Kleinkinder den Flaschentod / Gratisproben werden verschenkt, Ärzte und Krankenschwestern bestochen / Die Richtlinien der WHO blieben in den vergangenen Jahren beinahe wirkungslos  ■  Aus Stockholm Reinhard Wolff

Ein kleines Kind in einem Krankenhaus in Pakistan stirbt direkt vor der laufenden Fernsehkamera. Die Mutter weint, eine Verwandte versucht sie zu beruhigen und zu trösten. Der Arzt im Krankensaal zeigt keine Regung, geht weiter zum nächsten Patienten. Eine Schwester wickelt den kleinen toten Körper in ein Tuch.

Mit diesen Bildern aus einem Krankenhaus in Karatschi beginnt ein Dokumentarfilm, der vor einigen Tagen im schwedischen Fernsehen gezeigt wurde. Das Zuschauerecho war groß. Vor allem aber brachte er neue Fahrt in eine seit einigen Monaten wieder angelaufene Boykottaktion gegen den Nestle-Konzern, weltgrößter Hersteller von Muttermilchersatz. Der Tod aus der Flasche war es nämlich, dem das kleine Kind im Film zum Opfer fiel, nicht etwa eine Hungersnot. Die Botschaft des Films: Kleine Kinder, anstatt gestillt mit der Flasche aufgezogen, sterben. Ausgemergelt, von ständigen Durchfällen geschwächt, ohne ausreichende Widerstandskräfte. Die kleinste Infektion wird ihnen zum Verhängnis; auch in den Krankenhäusern kann ihnen nicht mehr geholfen werden.

Vor fünfzehn Jahren, Mitte der siebziger Jahre, kam der erste Alarm aus Afrika. Kleinkinder starben, weil sie mit Muttermilchersatz aufgezogen wurden, anstelle von Muttermilch. Harte Kritik und eine wirkungsvolle Boykottaktion hatten 1984 endlich Erfolg. So hatte es zumindest den Anschein. Nestle und die übrigen Produzenten von Muttermilchersatz versprachen hoch und heilig, sich an die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelten ethischen Richtlinien zu halten.

Der eingangs erwähnte Dokumentarfilm zeigt, daß der Flaschentod noch immer an der Tagesordnung ist. Nach Zahlen der Weltgesundheitsorganisation wütet er schlimmer als je. Mindestes 54 Hersteller von Muttermilchersatz gibt es mittlerweile weltweit, die meisten halten sich nicht an die WHO-Regeln. Das Ergebnis: Jedes Jahr stirbt eine Millionen Kleinkinder den Flaschentod - alle dreißig Sekungen ein Kind.

Die Herstellerfirmen von Muttermilchersatz bestechen Ärzte und Krankenschwestern, bezahlen ihnen Reisen, „Stipendien“, machen wertvolle Geschenke. Große Annoncen und Plakate zeigen lachende, gut entwickelte Kinder neben den Packungen für das Muttermilchersatzpulver. Krankenhäuser und Geburtsstationen werden mit kostenlosen Proben überschwemmt.

Birgitta Rubinsson, eine Krankenschwester, die längere Zeit auf den Philippinen und in Indien gearbeitet hat, bestätigt die Aussagen des Dokumentarfilm: „Jede Mutter, die mit ihrem Neugeborenen das Krankenhaus verließ, bekam ihr Gratispaket Muttermilchersatz mit. Nach meiner Erfahrung laufen mit dem Ersatzpulver aufgezogene Kinder ein mindestens doppelt so hohes Risiko zu sterben als gestillte Babies.“ Nicht nur das Problem des unreinen, oft nicht abgekochten Wasser rafft die Babies dahin. Rubinsson: „Die meisten Familien können sich das teuere Pulver eigentlich überhaupt nicht leisten. So verdünnen sie es immer mehr, im Glauben an die Wunderkraft der Produkte aus Europa. Wird das Kind immer anfälliger und kränker, empfehlen viele Ärzte den Müttern einfach eine andere Marke. Ärzte, Krankenschwestern und Eltern sind der überzeugenden Reklamekampagne regelrecht verfallen. Die Mütter haben ja auch keine andere Wahl: Wenn das Kind nicht von Anfang an gestillt wird, bleibt ja nur noch die Flasche.“

In Schweden wurde aufgrund der alarmierenden WHO-Berichte bereits im vergangenen Herbst zu einer neuen Boykottaktion gegen Nestle aufgerufen. Getragen vor allem von Frauen- und Umweltgruppen wird mittlerweile auch in Norwegen und Finnland wieder ein Nestle-Boykott propagiert. Nicht weil Nestle der schlimmste oder gar einzige Sünder wäre, sondern weil er der größte Produzent von Muttermilchersatz ist. Ann Margret Yngve von der schwedischen Boykottgruppe: „Nestle verschenkt entgegen den WHO-Empfehlungen weiterhin massenhaft Muttermilchersatz in Krankenhäusern in Afrika und Asien. Deshalb kaufen wir keinen Nescafe mehr, keine Produkte von Nestle, Maggi oder Findus.“

Bei Nestle gibt man sich beleidigt. Verkaufschef Gunnar Söderling: „Es ist ungerecht. Wir folgen den WHO -Empfehlungen und waren im übrigen eine der treibenden Kräfte bei der Formulierung dieser Empfehlungen. Alle unsere Angestellten und Vertreter haben ganz klare Richtlinien.“ Allerdings: Man könne natürlich nicht für jeden einzelnen Vertreter irgendwo in Indien oder auf den Philippinen die Hand ins Feuer legen, nicht garantieren, daß tatsächlich alle sich an die Richtlinien hielten und nur ÄrztInnen, und diesen nur auf ausdrücklichen Wunsch, Gratisproben aushändigen.

Wie das in der Praxis aussieht, erzählt ein früherer Vertreter einer nicht genannten Firma, der im Dokumentarfilm anonym bleiben will: „Wir wollen verdienen, Ärzte und Krankenschwestern sind schlecht bezahlt. Wenn sie nicht wirkich durch die Reklame überzeugt werden, gibt es also ein gemeinsames finanzielles Interesse. Damit große Mengen Gratisportionen nicht auffallen, wird einfach gegen Rechnung geliefert, wobei jedem der Beteiligten klar ist, daß das Krankenhaus die Rechnung niemals zahlen wird und kann.“

Die Gratisproben sind der entscheidende Einstieg ins große Geschäft. In einem Verkaufshandbuch eines der Milchersatzproduzenten heißt es: „Die Stastistik zeigt, daß Mütter, die eine bestimmte Marke gratis mit nach Hause bekommen, in 93 Prozent der Fälle ihr Baby in Zukunft ausschließlich mit Produkten dieser Marke aufziehen.“ Hinzuzufügen wäre: Wenn es nicht vorher an den Segnungen dieser Marke stirbt.

Die Bilanz seit dem Stopp des Boykotts 1984 ist erschreckend. Das einzige, was die WHO-Regeln erreicht haben, ist, daß sich mehr Produzenten auf das einträgliche Geschäft gestürzt haben, in immer mehr Ländern die Vertreter ausgeschwärmt sind. Der Verbrauch in Arika und Asien wächst ständig, Steigerungsraten von jährlich etwa zwanzig Prozent waren in der Vergangenheit die Regel. Göran Sterky, bei der Weltgesundheitsorganisation für die Gesundheit von Müttern und Kindern zuständig: „Diese Steigerungsraten finden ihre direkte Entsprechung in den Zahlen für die Säuglingssterblichkeit. Mehrere Millionen sind jetzt schon Opfer dieses Pulvers.“

Das Ziel des Nestle-Boykotts ist das vollständige Verbot der Verteilung von Gratisproben und des Verkaufs mit Rabatt. Auch die Hintertür der „Anforderung durch einen Arzt“ soll hiermit geschlossen werden. Ein lückenloses Einhalten dieser Regeln hätte nach Meinung der Boykottgruppen durchschlagenden Erfolg: 95 Prozent der Diarrhöe bedingten Kindersterblichkeit könnten vermieden werden. Und mit dem Profit der Muttermilchersatz-Produzenten wäre es natürlich auch vorbei. Was einem freiwilligen, beispielsweise nicht durch einen Boykott unterstützten Rückzug aus diesem einträglichen Markt von vorneherein nicht erwarten läßt.

Kontaktadresse der schwedischen Nestle-Boykottgruppe: Lilian Hedman, Bofriede Fröjel, S-620 20 Klintehamn.