Das Europa der Zukunft ist nah

Dieter Senghaas sieht Chancen für eine dauerhafte europäische Friedensordnung  ■ I N T E R V I E W

taz: Wir erleben momentan das Ende des kalten Krieges. Aber die sicherheitspolitischen und ökonomischen Erblasten abzubauen kann dauern.

Dieter Senghaas: Der kalte Krieg ist vorbei, der ideologische Antagonismus zu Ende, das heißt auch, daß die Rüstungskonkurrenz, wie wir sie 40 Jahre lang erlebt haben, zu Ende geht. Heute geht es darum, sich nicht von der Summe der Altlasten erdrücken zu lassen.

Ein dauerhaft friedlicher Zustand Gesamteuropas soll Ergebnis eines komplexen Transformationsprozesses sein. Was wären erste konkrete Schritte?

Wir benötigen als erstes einen gesamteuropäischen, institutionellen Rahmen, so wie er uns aus dem westeuropäischen Zusammenhang vertraut ist. Wir müssen zu einer Verstetigung des KSZE-Prozesses kommen, in dem Sinne, daß es ganz selbstverständlich wird, daß sich Regierungschefs mindestens ein-, vielleicht zweimal im Jahr treffen, daß die Fachminister so konferieren, wie sie dies heute in Westeuropa tun. Es sollte zu einer parlamentarischen Vernetzung wie auch zu einer Kooperation von unten, von Bürgerbewegungen, kommen.

Außerdem brauchen wir Institutionen der friedlichen Streitbeilegung. Nicht die klassischen Kriege sind im Europa der Zukunft eine Gefahr, sondern gesellschaftliche, ethno -nationalistische Konflikte. Wir benötigen so etwas wie ein Frühwarnsystem, wo dritte Parteien, Schlichter, Vermittler mit den Konfliktparteien zu Lösungen kommen. Aus der Konfliktforschung weiß man, daß Konflikte eine teuflische Dynamik haben, wenn sie eskalieren. Die Gegner verlieren erst ihre Gesprächs- und dann Kompromißbereitschaft, bis die Konflikte autistisch werden. Was es zu verhindern gilt, ist die Gefahr von fünfzehn Nordirlands in Europa.

Und drittens benötigen wir ein System kooperativer oder kollektiver Sicherheit, falls es doch noch zu einer bewaffneten Auseinandersetzung kommt. Dafür brauchen wir einen europäischer Sicherheitsrat oder eine Friedenspolizeitruppe als ständige Einrichtung.

Muß es angesichts des ökonomischen Gefälles zwischen West und Osteuropa nicht zwangsläufig zu Bevormundung und Ausgrenzung kommen?

Das ist im Grunde genommen eine entwicklungspolitische Fragestellung. Westeuropa ist natürlich der dynamische Pol im europäischen Wirtschaftsraum und Osteuropa in der Gefahr, zur Peripherie zu werden. Das muß aber nicht sein. Denn wenn die Wirtschaftsreformen in den osteuropäischen Staaten auch nur einigermaßen gelingen, bestehen in diesem neuen Europa ausreichende Wirtschaftsimpulse, um diese Ökonomien zu stabilisieren. Und sie in einem wenn nicht symmetrischen, dann doch in Richtung Symmetrie gehenden Zusammenhang mit Westeuropa zu bringen. Das wird nicht innerhalb von zehn Jahren geschehen, das ist vielleicht in 25 Jahren zu schaffen. Um dies auf ökonomischer Ebene zu erreichen, ist aber die politische Stabilisierung absolut erforderlich. Kommt es zur Zerklüftung Europas - hier die EG, die Sowjetunion auf der anderen und ein sich zermürbendes Osteuropa -, dann sind diese Sanierungsprozesse ohne Erfolg.

Aber Ausgrenzungstendenzen, besonders gegenüber der Sowjetunion, deuten sich doch schon an.

Es gibt keine Lösung irgendeines Problems, schon gar nicht im sicherheitspolitischen Bereich, ohne Beteiligung der Sowjetunion.

Wer könnte initiativ werden beim Stabilisierungsprozeß?

Was die Vernetzung des gesamten Europa auf institutioneller Ebene anbelangt, so gibt es ein vitales Interesse bei den jetzigen osteuropäischen Staaten. Am deutlichsten wird das in Prag von Vaclav Havel zum Ausdruck gebracht. Ähnliches hört man in Warschau und in Budapest.

Und in Westeuropa?

Ich glaube, die Bundesrepublik und die DDR, das vereinte Deutschland, ist der erste natürliche Interessent für eine solche Lösung. Weniger Frankreich und Großbritannien. Die deutsche Frage ist nur lösbar - im Sinne einer akzeptablen Lösung für alle -, wenn es tatsächlich zu einer gesamteuropäischen Plattform kommt.

Wenn man die Positionen zur Nato-Mitgliedschaft berücksichtigt, scheint sicherheitspolitisch Gesamtdeutschland festgelegt. Ist der Zug für alternative Modelle nicht längst abgefahren?

Der Zug ist nicht abgefahren. Die bisher vorgeschlagene Nato-Lösung wird nicht von der Sowjetunion akzeptiert. Ich machte noch vor den momentanen Diskussionen den Vorschlag der übergangsweisen Doppelmitgliedschaft Gesamtdeutschlands in beiden alten Bündnissen, weil mir klar war, daß innerhalb kurzer Zeit die sowjetischen Truppen in der DDR aus logistischen Gründen nicht abziehen können. Ich unterstellte auch, daß die Sowjetunion sie nicht abziehen würde, weil sie natürlich eine Lösung der deutschen Frage eingebettet in den europäischen Kontext anstrebt, mit der sie leben kann. Die Paradoxie treibt über sich selbst hinaus zu einer Lösung.

Was passiert denn nun mit Nato und Warschauer Pakt? Was könnte ihre neue Sinnhaftigkeit sein?

In diesem Jahr wird man aller Wahrscheinlichkeit nach ein erstes Wiener Abkommen über konventionelle Truppen (VKSE I) haben, das die Stationierungsstreitkräfte reduziert. Es ist heute schon mehr oder weniger beschlossene Sache, daß man sofort in Wien weiterverhandeln wird in Richtung auf VKSE II, das die nationalen Streitkräfte reduzieren wird. Meiner Prognose nach um 50 Prozent.

Diese Abkommen sollen und müssen streng überwacht, kontrolliert und inspiziert werden. Dafür braucht man einen Apparat. Und der ist Ansatzpunkt für ein späteres kollektive Sicherheitssystem. Er muß die militärische Situation in Europa völlig transparent machen und ist damit Experimentierfeld für eine erste gemeinsame gesamteuropäische Institution. Diese muß weiterentwickelt werden in Richtung auf eine neue sicherheitspolitische Struktur. Das wäre dann VKSE III. Meiner Meinung nach könnte man schon 1993/94 den Startschuß geben.

Die alten Kalte-Kriegs-Bündnisse als Überwacher der neuen Friedensordnung?

Ja, sie initiieren, begleiten und überwachen den Abrüstungsprozeß. Sie würden aber dann mit den restlichen Staaten Europas, auf der Ebene der 35 Staaten, dieses kollektive Sicherheitssystem bilden. Dieser Prozeß hat bis zum Jahr 2000 eine Lösungsperspektive.

Ist dieses Gesamteuropa nicht ein künftiges Großeuropa mit hegemonialem Habitus?

Nein. Dieses Europa setzt sich immer noch aus mindestens 35, vielleicht demnächst sogar mehr Staaten zusammen, sollte es unabhängige baltische Republiken geben. Es wird nie eine Großmacht sein, weil es immer eine konföderative Struktur haben wird. Es wird nie vergleichbar sein etwa mit dem heutigen China oder den USA, die ja Großstaaten sind. Das wäre ganz uneuropäisch.

Dann hat Europa zum angehenden dritten Jahrtausend seinen vielleicht ewigen Frieden. Und die übrige Welt?

Man muß sich im Augenblick auf Europa konzentrieren. Wenn es innerhalb einer Dekade diese dauerhafte Struktur geben wird, dann wird das eine neue Plattform für eine vernünftige Entwicklungspolitik gegenüber der Dritten Welt sein.

Was macht Sie eigentlich so optimistisch?

Ich glaube eher, daß andere in einem lustvollen Katastrophismus versinken.

Machen Sie es sich da nicht zu einfach? In der Sicherheitspolitik stehen die Zeichen nicht unbedingt auf Kooperation.

Bisher haben die USA eine ganz vorsichtige Politik betrieben. Seit einem Jahr ist das Zugehen auf Gorbatschow offizielle, sogar erklärte Politik.

Es ist auffallend, wie sehr die militärpolitische, harte Linie der Nato differiert von den politischen Positionen einzelner Mitgliedsstaaten.

Die Nato ist in einer tiefen Krise. Die militär -strategischen Prämissen wie die Vorne-Verteidigung, die Doktrin des Ersteinsatzes von Nuklearwaffen im Falle eines konventionellen Angriffs, stimmen nicht mehr. Die Nato ist im politischen Zugzwang angesichts der Dynamik der deutschen Frage. Wenn die Nato noch eine Zukunft auch nur in den nächsten zehn Jahren haben will, muß sie ihre Lähmung überwinden.

Interview: Andrea Seibel

Zum selben Thema ist kürzlich von Dieter Senghaas bei edition suhrkamp: Europa 2000. Ein Friedensplan erschienen.