DDR-Schulen mit ungewisser Zukunft

■ In Berlin diskutiert heute ein „Bildungsrat“ über Schule nach der vollzogenen Einheit / Von Axel Kintzinger

Mit dem Ende der DDR kündigt sich auch der Abschied von Schulformen an, die im Westen unbekannt sind. Aber auch bundesrepublikanische Pädagogen befürworten etwa die Übernahme des Modells „Abitur mit Berufsausbildung“ - ein Weg, auf dem sich bisher ein Drittel der DDR-Studenten ihre Hochschulzulassung erwarben. Bildungspolitische Konzepte fehlen noch im Westen wie im Osten.

Wenn der von Bundesbildungsminister Jürgen Möllemann einberufene „Bildungsrat“ heute im Berliner Reichstag zusammentritt, dürften sich Sorgenfalten auf die Stirn von Knut Ulleboom legen. Der Pädagoge ist stellvertretener Direktor einer Bildungseinrichtung, die es in der Bundesrepublik nicht gibt und in der DDR wahrscheinlich bald nicht mehr geben wird. Ulleboom leitet die Geschicke der „Betriebsschule Philipp Müller“, ein an die VEB Zementwerke Rüdersdorf angegliedertes Ausbildungszentrum. Hier erlernen Absolventen der Regelschule „Polytechnische Oberschule“ (POS) den Beruf des Elektromonteurs oder des Baustoffmaschinisten. Und nicht nur das. Versehen mit einigen „klassischen“ Fächern bauen sie dort, inmitten einer Industriebrache vor den Toren Berlins, ihr Abitur. Etwa zehn - bis elftausend Schülerinnen und Schüler pro Jahr erreichten ihre Hochschulzulassung auf diesem Wege immerhin ein Drittel aller Studienanfänger.

Der Zugang zur akademischen Karriere war unter DDR -Bildungsministerin Margot Honecker limitiert, die restlichen 20.000 Abiturienten erreichten einen der begehrten Studienplätze auf dem Weg über die zwei Jahre dauernde „Erweiterte Oberschule“, einer Art gymnasialer Oberstufe nach besonders erfolgreichem Abschluß der POS. Daß dafür, ähnlich wie bei der Vergabe der Studienplätze, nicht nur die Noten als Maßstab genommen wurden, verstand sich im SED/CDU/LDPD-Staat von selbst. Aktive Mitarbeit in sogenannten gesellschaftlichen Massenorganisationen wie der FDJ konnten zumindest nicht schaden.

Die Möglichkeit, Abitur mit Berufsausbildung zu absolvieren, führte bei DDR-Bürgern zu interessanten Biographien. Freya Klier etwa, die Autorin, Regisseurin und Bürgerrechtlerin, lernte auf diese Weise zu ihrem Abitur den Beruf der Facharbeiterin für Turbinenbau. Nicht ganz freiwillig allerdings. Da wurden, wie in ihrem Fall („Ich wollte erklärtermaßen Schauspielerin werden“, erinnert sich Freya Klier in ihrem neuen Buch Lüg Vaterland - Erziehung in der DDR, Kindler Verlag), Lebensläufe junger DDR-Bürger auch schon mal per Anweisung aus der Schulbürokratie programmiert. Da fand bislang eine „massive Berufswahllenkung“ statt, erkannte der Pädagoge Axel Gehrmann von der FU Berlin bei seinen Beobachtungen in DDR -Schulen. Bereits ab der siebten Klasse wurden Berufswahlvorbereitungen getroffen, Karteien über jede Schülerin und jeden Schüler angelegt.

Dennoch setzen Bildungspolitiker aus Ost und West heute darauf, diese Schulform im vereinigten Deutschland nicht von der Angebotspalette zu streichen. Die Urheber von solchen Schulversuchen in Nordrhein-Westfalen (siehe Interview) wittern Morgenluft. Und auch der parteilose DDR -Bildungsminister Hans Joachim Meyer will, etwa bei deutsch -deutschen Bildungstreffen wie heute in Berlin, seine Bonner Kollegen dafür gewinnen. Meyer richtet aber auch Forderungen an die bisherigen VEBs und Kombinate, unter deren Fittiche sich die Betriebsschulen bislang befinden: „Wir kämpfen um den Erhalt des Berufsbildungssystems, wobei sich die Betriebe an den Kosten beteiligen müssen.“ Doch die wollen davon, bereits vor ihrer Umwandlung in GmbHs oder Aktiengesellschaften, nichts wissen. „Eine Vielzahl der Betriebe steigt aus der Verantwortung aus“, erkannte Meyer Anfang Mai und will nun „mit juristischen und fiskalischen Mitteln diesem Zustand entgegenwirken.“

„Weg mit den

Betriebsschulen“

Dafür dürfte er im Westen jedoch keine Fürsprecher finden. Selbst Pädagogikprofessor Jürgen Raschert, als bildungspolitischer Berater Nordrhein-Westfalens Verfechter dieses Schulmodells, fordert kategorisch: „Weg mit den Betriebsschulen!“ Eine Zusammenarbeit mit Betrieben, wie an den Kolleg-Schulen an Rhein und Ruhr praktiziert, sei zwar sinnvoll. Aber die Bundesländer sollten auch hierbei von ihrer bildungspolitischen Hoheit Gebrauch machen.

Derzeit werden Lehrer und Lehrmittel der Betriebsschulen von den Betrieben bezahlt beziehungsweise gestellt. Die VEBs und Kombinate rechneten die Kosten bislang aber mit dem DDR -Bildungsministerium ab. Woher die Gehälter demnächst kommen sollen, ist den Pädagogen nicht ganz klar. Dieser Zustand führte Anfang Mai auch in Ullebooms Betriebsschule „Philipp Müller“ zum ersten (Lehrer-)Streik in der 31jährigen Geschichte dieses Ausbildungszentrums. Die Lehrer können sich nicht sicher sein, ob der VEB Zementwerke, wenn er demnächst zur Rüdersdorfer Baustoff GmbH umbenannt und umgewandelt ist, weiterhin Geld und Drehbänke stellt. Ulleboom ist diese Unruhe - ausgerechnet an dem Tag, als die taz ihn besucht - sichtlich peinlich. Als „strikter Verfechter“ dieser Schulform möchte er jeden Wirbel vermeiden und unterstreicht lieber die Erfolge: die Einrichtung von Lehrwerkstätten trotz ausbleibender Lieferungen der notwendigen Maschinen, und der eigenständige Aufbau eines „Computer-Kabinetts“, in dem die Rüdersdorfer Schüler erste Gehversuche in der Datenverarbeitung unternehmen. Das Niveau der Ausbildung sei hoch genug, um auch auf dem Arbeitsmarkt der freien Marktwirtschaft zu bestehen.

Schüler, danach befragt, reagieren eher skeptisch, wollen „das Ding aber durchziehen“ und die Schule nicht abbrechen. Immerhin wurde ihnen mit der Entscheidung der westdeutschen Kultusministerkonferenz, das DDR-Abitur grundsätzlich anzuerkennen, eine schwere Last genommen.

Paukschule aus dem

19. Jahrhundert

Zweifel über gleiche Chancen an den westdeutschen Hochschulen bleiben dennoch. „Uns ist egal, wo und wie jemand sein Abitur gemacht hat“, erklärte ein Sprecher der Kultusministerkonferenz gegenüber der taz, „Hauptsache, es ist in der Qualität gleichwertig“. Zumindest an den Betriebsschulen genügt die Ausbildung aber längst nicht immer. So kommen in Rüdersdorf etwa die musischen Fächer zu kurz. Um diese Schulform zu halten und das dortige Abitur gleichwertig zu machen, muß also kräftig nachgebessert werden. Und das betrifft nicht nur die Frage der Fächerangebote. Das gilt auch für die Qualifikation des Lehrpersonals, das fängt schon bei den Lehrbüchern an. In der Buchhandlung des Berliner „Hauses des Lehrers“ werden noch heute ausschließlich Geschichts- und Deutschbücher angeboten, die sich in erster Linie an den bildungspolitischen Vorgaben aus den SED-Richtlinien orientieren. Die Lager westdeutscher Schulbuchverlage reichen längst nicht aus, um Ersatz zu schaffen.

Und wie sollen die alten Lehrer, in ihrer großen Mehrheit treue Parteigänger, die neuen Inhalte glaubwürdig vertreten? Wie werden sie reagieren, wenn die Liberalisierung des gesellschaftlichen Lebens in der DDR sich auch im Verhalten der Schüler widerspiegelt? Bislang haben die Lehrer allein auf Disziplin gesetzt.

Didaktisch orientiert an der „Paukschule des 19. Jahrhunderts“ (Raschert), beschränkte sich der Unterricht auf bloßes Eintrichtern und Abfragen von Fakten und Formeln. „Frei von jeglichem Diskurs“ erlebte Prof. Gehrmann den Unterricht bei Beobachtungen an DDR-Schulen. Peinlich genau wurde auf die Einhaltung von Normen geachtet, angesichts derer sich westdeutsche Lehrer und Schüler vor Vergnügen gemeinsam auf die Schenkel schlagen würden. Etwa jene, die die Körperhaltung während des Unterrichtes festschreibt: „Abstand der Augen von der Lesefläche mindestens 300 Millimeter.“ Da wurde die Verpflichtung von Lehrern festgelegt, „gemeinsam mit den Eltern dafür zu sorgen, daß es für jeden Schüler zur festen Gewohnheit wird, täglich gewaschen, gekämmt und mit sauberem Taschentuch zur Schule zu kommen“.

Autoritätsverlust

Den Lehrern, die das Ideal der unbedingten Disziplin jahrelang vertreten haben, dürfte von seiten der Schüler demnächst Autoritätsverlust drohen. Die Tage nach der Maueröffnung zeigten das deutlich: Da wurde der Unterricht kollektiv geschwänzt, vor allem von den Staatsbürgerkundelehrern möchten sich viele nichts mehr sagen lassen. Schulintern drohte das Autoritätsgefüge nur kurzzeitig ins Wanken zu geraten. Nachdem die Direktiven aus dem Apparat der Margot Honecker ausblieben, versuchten viele Schulleiter, ihre Position durch Wahlen demokratisch zu legitimieren. Das Ergebnis ist vor allem für jene Lehrer niederschmetternd, die sich von der Wende auch einen pädagogischen Frühling erhofft hatten: Fast überall stehen die Befehlsempfänger von einst noch heute den Schulen vor. Die überwiegende Mehrheit der DDR-Lehrer weiß sehr wohl um die von ihnen gespielte Rolle bei der pädagogischen Deformation ganzer Generationen. Sie taucht ab und hofft nun, möglichst schnell in den Beamtenstatus übernommen zu werden. An der Diskussion über neue Schulmodelle zeigen sie kein Interesse.

Fehlende Konzeption

„Die warten wieder“, beklagen etwa Mitarbeiter der Basisinitiative „Kontaktbüro für Lehrer“, „auf Direktiven von oben.“ Doch von dort kommt bislang nicht viel Konkretes. Einige der zukünftigen Bundesländer, vor allem im Süden der DDR, wollen sich schon jetzt an den Aufbau von Gymnasien machen und das westliche, dreigliedrige Schulsystem einführen. Im DDR-Bildungsministerium setzt man dagegen auf die zügige Einrichtung von sogenannten Leistungsklassen. Bereits nach der achten Klasse POS sollen Schüler mit entsprechendem Notendurchsschnitt in Sonderklassen ausgebildet und für die Hochschulreife vorbereitet werden.

Ob dieses Modell nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten eine Zukunft hat, scheint aber fraglich: Im westdeutschen Bildungssystem ist so etwas jedenfalls nicht vorgesehen. Ungeklärt ist auch die Frage, ob, wie in der DDR bisher üblich, zwölf Schuljahre für das Abitur reichen, oder ob dafür, wie in der BRD, 13 Jahre notwendig sind. In der Bundesrepublik existiert bislang kein Gremium, das sich konzeptionelle Gedanken über eine zukünftige, gesamtdeutsche Bildungspolitik macht.

Ob der von Möllemann einberufene „Bildungsrat beim Bundesbildungsministerium“ dieser Aufgabe gewachsen ist, ist fraglich. Die erlauchte Runde aus Wirtschaftsbossen, Bildungsjournalisten und (wenigen) Pädagogikwissenschaftlern ist nicht demokratisch legitimiert, ihre Kompetenz umstritten. Dabei knüpft zumindest der Name an eine westdeutsche Tradition an: Im Deutschen Bildungsrat, der 1975 seine Arbeit einstellte, erarbeiteten vom Bundespräsidenten bestellte Fachleute bildungspolitische Leitsätze. Davon ist der heute in Berlin tagende Rat jedoch weit entfernt: „Weitere Maßnahmen für die Schul- und Hochschulpolitik in der DDR“ - so lautet lapidar die Tagesordnung für das Treffen im Reichstag.