SO WIE COLA

■ Beginn einer großen Flipperfreundschaft

Ich war ein stilles Kind. Ich konnte lesen, bevor ich vier war, und verbrachte deshalb meine Kindheit und Jugend hauptsächlich mit Büchern, während andere sich schon längst den Freuden der Glücks- und Telespiele in schummrigen Ecken verrauchter Kneipen hingaben. Ich war noch mit Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar auf Tour, als andere statt Kurdistan längst das andere Geschlecht entdeckt hatten, sich in die Seiten stoßend an den Flipperautomaten tummelten und ihre Freispiele vergeigten, weil ihnen hübsche Mädchen kokette Augenaufschläge zuwarfen.

Im weiteren Verlauf meiner Existenz war meine liebste Kneipenbeschäftigung neben der Stammtischphilosophie das Billardspiel, das zudem Müsli-ideologisch einwandfrei war, und so begann mein Coming-out erst während eines zweimonatigen USA-Urlaubs. Da ich klein und feige war, verzichtete ich darauf, Leben und Besitz beim Trampen aufs Spiel zu setzen, und bewegte mich mit dem altehrwürdigen Busunternehmen Greyhound, das mit einem zwar nicht vertrauenserweckenden, aber Schnelligkeit versprechenden Windhund wirbt, quer durch die Staaten. Die ausgiebigen Bustouren (u.a. einmal drei Tage am Stück von Buffalo, New York, bis San Francisco) öffneten mir die Augen - nicht nur für die mythenbeladene Landschaft.

Beim Umsteigen in Dallas oder ähnlich toten Orten (vor allem Sonntag mittag ist jede Downtown völlig ausgestorben) konnte man den oft mehrstündigen Aufenthalt entweder damit verbringen, sich die nötige imperialistische Wegzehrung bei McDonald's oder Burgerking zu beschaffen, sich auf die Suche nach einem gezapften Bier zu begeben (in Salt Lake City zum Beispiel ein hoffnungsloses Unterfangen) oder eben die in den Greyhound-Stations zur Verfügung gestellten Vergnügungsmöglichkeiten zu nutzen. Da stehen Pac-Man oder Invaders-From-Outer-Space-Tele-Spiele und natürlich Flipper -Automaten. Und da der Amerikaner ein äußerst praktisch veranlagter Mensch ist, sorgt er für alles. Neben den Automaten steht eine Wechselmaschine, die nicht zuläßt, sich selbst einzureden, daß man ja kein Kleingeld mehr hat. Eine Ein-Dollar- oder Fünf-Dollar-Note genügt, und man erhält jede Menge 25-Cent-Stücke, im dortigen Volksmund ausschließlich Quarters genannt, und die Pforte zum Glück steht einem offen. Jetzt braucht man nur noch eine der Münzen sanft zu streicheln, sie in den Schlitz einzuführen, den kleinen, weißen, bei guten Flippern immer unbeschrifteten Game-Knopf zu drücken, die beiden seitlichen Drücker liegen unter den Zeigefingern, der Automat schmiegt sich gegen die Hüfte...

Flippern ist wie Cola. Man sträubt sich, es ist zu süß, zu einfach zu kriegen, zutiefst amerikanisch und macht süchtig. Dein erstes Freispiel wirst du nie vergessen. Wenn dein Lieblingsflipper wegen Altersgründen aus dem Verkehr gezogen wird, wirst du einen Trauertag einlegen. Und wenn du in irgendeiner alten Kneipe ein altersschwaches Modell eines nie zuvor gesehenen Flippers siehst, wirst du solange nicht aufhören, bis das Ding die Freispiele so ausspuckt, wie du es möchtest. In Memphis fand ich einen Flipper namens „Charlie's Angels“, ein Typ, der in seinem primitiven Aufbau noch älter als die TV-Serie sein mußte, nach der er benannt war. Die klassischen drei Bouncer oben, drei Teile zum Abschießen, eine Bahn, um zu punkten, das war's. Ich verbrachte das gesamte Konzert der namenlosen Bluesband mit Charlie.

Einmal von Ost nach West, einmal von West nach Ost. Unzählige Meilen, ungezählte Flipperautomaten. An meinem vorletzten Tag in New York besuchte ich ein Konzert der australischen Band Celibate Rifles, das in einem ehemaligen Kino stattfand. An der Seite des Konzertsaals standen sie wieder, die suchtbringenden Apparate. Dort stellte ich meinen ersten und bisher auch letzten Highscore auf, und allein deshalb wird mir dieses Konzert bis an mein Lebensende in Erinnerung bleiben.

Seitdem kann ich an keinem Flipper vorbeigehen, ohne mindestens fünf Mark zu verballern, aber immerhin habe ich meine Sucht so weit unter Kontrolle, daß ich nach fünf verspielten DM zu entscheiden in der Lage bin, ob der Stoff gut oder schlecht ist.

Thomas Winkler