Chinas Mauer hat Lücken

■ Ausländische Rundfunksender sind die wichtigste Nachrichtenquelle der Chinesen. Das Informationsmonopol der KPCh ist längst gebrochen, selbst die Kader hören BBC. Von Henrik Bork

Juni 1989: Für einige dramatische Sekunden hielten Fernsehzuschauer auf der ganzen Welt den Atem an: Ein einzelner Chinese stellte sich einer Panzerkolonne in den Weg. Dieses Bild, am nächsten Tag in jeder Zeitung abgedruckt, verdeutlichte mehr als tausend Worte die Brutalität des Pekinger Massakers: Panzer gegen unbewaffnete Zivilisten.

Doch einige Wochen später war das Foto an einem Ort zu sehen, an dem man es nicht erwartet hätte: im Pekinger Militärmuseum, als Teil einer Ausstellung über die „Konterrevolution“ und deren „ruhmreiche Niederschlagung durch die Volksbefreiungsarmee“. Das Bild zeige, wie geduldig die Armee mit den „Aufrührern“ gewesen sei, erklärte der Museumswärter dem verdutzten Besucher. Diese eher hilflose Propaganda wird in Peking nur ausgelacht. Schlimmer wirkt das Verschweigen. Schiffbruch

für den Piratensender

Die ins Exil geflüchteten Dissidenten haben sich folgerichtig das Ziel gesetzt, das Informationsmonopol der kommunistischen Partei zu durchkreuzen. Von ihrem Radioschiff „Göttin der Demokratie“ wollten sie das chinesische Volk über die Ereignisse im Frühsommer 1989 aufklären. Doch die Aktion scheiterte an den Klippen des chinesischen Einflusses im asiatischen Raum: Weder Hongkong, noch Taiwan oder Japan widerstanden dem diplomatischen Druck der Pekinger Regierung und verweigerten dem Piratensender einen Basishafen. Nun sollen die Botschaften der Demokratie -Bewegung über ausländische Sender ihren Weg in rotchinesische Radio-Empfänger finden. So schade es um die ihrerseits medienwirksame Schiffsaktion auch sein mag - über die etablierten Sender sind mehr chinesische Hörer zu erreichen, als dies von dem schwankenden Boot aus je möglich gewesen wäre.

„Thank you BBC“ stand auf einem Spruchband, mit dem die Studenten vor jenem 4.Juni auf den Platz des Himmlischen Friedens zogen. Der britische Sender strahlt auch heute noch seine chinesisch-sprachigen Programme aus - täglich drei Stunden im nördlichen Dialekt Mandarin, 45 Minuten auf Kantonesisch. Mehrere Millionen hören jeden Tag die Nachrichten aus London, trotz chinesischer Störversuche. „Sie schaffen es nicht, alle Frequenzen zu stören“, sagt Li Guangzhao, Chef der Chinaredaktion des „Worldwide Service der BBC“. Oder wollen sie es vielleicht gar nicht? „Die Kader selbst wollen nicht auf unsere Nachrichten verzichten“, sagt Li. Der Zugriff auf Wissen ist selbst innerhalb der kommunistischen Partei nicht für jeden Genossen gleich: Je höher er in der Hierarchie steht, desto mehr als „neibu“ (intern) klassifizierte Informationen vertraut ihm die allwissende Partei an. So weiß niemand genau, wieviele Nachrichten gerade ihm vorenthalten werden und hört BBC.

„Die Wahrheit

in den Fakten suchen“

Noch mehr dankbare Hörer findet der amerikanische Sender „Voice of America“. Am 4.Juni 1989 erhöhte er seine Sendezeit auf elf Stunden Mandarin und eine Stunde Kantonesisch, am 16.Juni kam eine weitere Stunde Mandarin dazu. „Wir bekommen jetzt wieder im Monat etwa 300 Briefe“, sagt David Hess, Leiter der Chinaredaktion in Washington, „doch im Gegensatz zu früher sind fast alle anonym.“ Wieviele Menschen „Voice of America“ hören können, hat die chinesische Regierung selbst ermittelt. Nach den Studentenunruhen vom Dezember 1986 führte sie eine Untersuchung durch, deren als „streng geheim“ eingestuften Ergebnisse von einem chinesischen Journalisten verraten wurden: Zwischen 60 und 100 Millionen Chinesen schalteten in diesen Krisenzeiten täglich die „Stimme Amerikas“ ein. Offenbar nahmen sie eines von Deng Xiaopings geflügelten Worten bitter ernst: „Man muß die Wahrheit in den Fakten suchen.“

Die „Voice of America“ (VOA) ist mit Abstand der bekannteste ausländische Sender. Als während der Kulturrevolution die Schulen des Landes geschlossen waren, lernten die Chinesen mit VOA heimlich Englisch. Während des Volksaufstandes im letzten Jahr war der Sender die wichtigste Nachrichtenquelle. Das blieb auch dem Regime nicht verborgen: Bereits am 21. Mai, nur einen Tag nach Verhängung des Kriegsrechtes über Peking, begann man den Sender zu stören. „Aber sie haben nicht genug Störsender, um alle unserer zwölf Frequenzen zu überlagern“, sagt David Hess. VOA schickt seine Programme via Satellit von Washington auf die Philippinen und erreicht von dort auch das letzte Dorf in der westchinesischen Steppe.

Augenzeugenberichte

in den Äther

Die Sendemasten der Deutschen Welle stehen im Inselstaat Sri Lanka. Immerhin 80 Minuten senden die Kölner täglich in chinesischer Sprache. „Wir werden nicht gestört“, sagt Andreas Donath von der Chinaredaktion. „Nicht, weil wir braver sind, sondern weil die Chinesen ihre Kapazitäten auf BBC und VOA konzentrieren müssen.“ Am Jahrestag wird die Deutsche Welle einen Augenzeugenbericht des Massakers in den chinesischen Äther schicken.

Seit dem 8.Juni 1989 mischen auch die Franzosen mit: „Radio France Internationale“ verfügt über gute Kontakte zu Dissidenten, von denen viele in Frankreich Asyl gefunden haben. Doch damit nicht genug. Die Chinesen, die sich nicht mit ihren eigenen gleichgeschalteten Medien zufrieden geben, können noch mehrere andere Sender empfangen: aus Japan, Südkorea, aus Australien und Kanada.

Natürlich soll diese Aufzählung nicht unterstellen, daß etwa die „Voice of America“ objektive Berichterstattung nach China trägt. Auf die gleichgeschalteten Transmissionsriemen chinesischer Parteipropaganda sind die Chinesen aber eben auch nicht angewiesen. Und steter Tropfen höhlt den Stein. Wer mag schon einschätzen, wie groß der Einfluß etwa von „Radio Free Europe“ auf die Entwicklungen in Osteuropa war.

Auch sind die Rundfunksendungen nicht der einzige Faktor der Gegenöffentlichkeit. Nur ein Beispiel: Die Zahl der Briefsendungen aus dem Ausland in die Volksrepublik China hat sich seit Beginn der Dengschen Reformpolitik im Jahr 1979 bis heute von 2,8 Milliarden auf mehr als sechs Milliarden jährlich gesteigert. Da kommt auch die schärfste Zensur nicht mit. Auch die Zahl der Telefonanschlüsse und Faxgeräte ist sprunghaft gestiegen. Es wird immer schwerer, Herrschaftswissen zu bewahren - auch in China. Neue Kommunikationstechnik, die für wirksame Reformen unverzichtbar ist, und autoritäres Regieren schließen sich auf lange Sicht gegenseitig aus. Im Zeitalter der Informationsgesellschaft hält auch die Chinesische Mauer nicht mehr dicht.

Henrik Bork