Chinesisches Geflüster ein Jahr nach dem Tiananmen

■ Es kann nicht mehr lange dauern, bis die alten Flügelkämpfe der Parteiführung offen aufbrechen, die Tage des starken Mannes Deng Xiaoping sind gezählt. Erste Anzeichen für eine Neubewertung der Juni-Ereignisse dringen bereits an die Öffentlichkeit.

China ist stabil, die Lage normal“, so hört man es unablässig von der chinesischen Führung und in den Massenmedien. Die ständige Wiederholung ist ein deutliches Zeichen, daß unterschwellig ein heftiger Richtungskampf innerhalb der Führung im Gange ist. In jüngster Zeit drang dieser Konflikt - wie alles im China dieser Tage - als Geflüster an die Öffentlichkeit: Erneut sei ein Flügelkampf ausgebrochen zwischen denen, die für eine Lockerung der im Vorjahr eingeführten ökonomischen Restriktionen eintreten und jenen, die noch durchgreifendere Kontrollen befürworten.

Hinter der Auseinandersetzung stecken zwei Achtzigjährige, die sich die vergangene Dekade hindurch befehdet haben, um Chinas politische Fäden in der Hand zu behalten. Der fünfundachtzigjährige all seiner politischen Ämter enthobene Deng Xiaoping, zeigte sich unlängst wieder an der Öffentlichkeit, um Gerüchten über sein Ableben entgegenzutreten, mehr noch, um seine Vision zu bekräftigen, von der die chinesische Entwicklung seit dem Tod Mao Zedongs 1976 bestimmt war: Es gelte, straffe politische Strukturen zu bewahren, während ökonomische Reformen und Öffnung allmählich voranschreiten sollen.

Für seinen Gegenspieler Chen Yun, den Guru der marxistischen Ökonomie, ebenfalls fünfundachtzigjährig, ist dies Anathema. Chen ist Vorsitzender des zentralen Beratungskommitees, eines Gremiums, in dem sich die alternden Veteranen drängen, auf deren Hilfe Deng Xiaoping bei der Niederschlagung der Demokratiebewegung im vergangenen Juni zurückgegriffen hat. Für Chen ist die Lektion des vergangenen Jahres klar: Die Aufrechterhaltung der politischen Kontrolle erfordert einen strafferen Wirtschaftskurs, alles andere bringt nur von neuem Forderungen nach politischen Reformen auf den Tisch.

Ein Jahr nach den blutigen Juni-Ereignissen sind die chinesischen Machthaber dem seither angestrebten politischen Konsens um nichts näher gekommen, trotz anderslautender Beteuerungen. Etliche angesehene Parteikader beginnen bereits, sich vom Befehl zur Niederschlagung der Studentenbewegung zu distanzieren. Li Ruihan , der frühere Bürgermeister von Tianjin deutete unlängst in einer Rede an, daß eine gewisse Selbstkritik angebracht sei, indem er ein altes chinesisches Sprichwort zitierte: „Die Menschen, nicht die Herrschenden sind wichtig... Das Volk ist wie Wasser, entweder es trägt das Boot oder bringt es zum Kentern.“ Ein seltener Hinweis im heutigen China, daß die Führung nicht unfehlbar sein könnte. Der gegenwärtige Parteiboß Jiang Zemin und Li Ruihan, die während der blutigen Junitage nicht in Peking weilten, erscheinen einigermaßen glaubwürdig, wenn sie heute eine Neubewertung der Ereignisse andeuten.

Propagandachef Li Ruihan ließ auch anklingen, daß ein Umdenken nötig sei: „Wir dürfen den Blick nicht in die Vergangenheit richten, wir dürfen uns nicht auf eine Minderheit verlassen, wir dürfen Theorie und Praxis nicht trennen.“

Jiang Zemin, der Nachfolger des Generalsekretärs der Partei Zhao Ziyang, äußerte vergangene Woche gegenüber einem amerikanischen Journalisten, bei der Entscheidung, am 4.Juni gewaltsam vorzugehen, sei „der springende Punkt“ gewesen, daß darüber innerhalb der Führung durchaus verschiedene Meinungen bestanden hätten.

Offensichtlich gibt es noch immer unterschiedliche Standpunkte innerhalb der Führung, und viele bedauern heute die Maßnahmen der Regierung. Daß es nun Anzeichen für eine Neubewertung gibt, macht deutlich, daß die Verantwortlichen für den Einsatzbefehl zunehmend in Schwierigkeiten geraten.

Premierminister Li Peng, Präsident Yang Shangkun und sein Bruder Yang Baibing, der die politschen Abteilung der Armee leitet, klingen noch zuversichtlich, aber die Hauptbetreiber des harten Kurses vom vergangenen Jahr werden Deng vielleicht schon bald in Rente folgen.

Engagierte Studenten der Universität Peking sind der Meinung, ein Wechsel in der Führung sei nur eine Frage der Zeit. Ein Studentenführer, der sich am Hungerstreik beteiligt hatte, erklärt, daß Volksbewegungen in der chinesischen Geschichte nie unabhängig vom Machtkampf in der Führung verlaufen: „Wir haben die Schlacht nicht in den Straßen verloren, wir haben sie in Zhongnnanhai verloren“ dort lebt und arbeitet die Parteiführung .

Das gegenwärtige Schattenboxen innerhalb der Parteiführung wird unweigerlich zum offenen Konflikt sobald Deng Xiaoping stirbt. Im Augenblick wird die schwierige Balance noch durch die Gefolgschaftstreue gegenüber diesem einem Mann gehalten. Insbesondere die Armee ist durch die sich häufenden Einsätze zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung aufgebracht. Wenn sie den Status quo noch aufrechterhält, dann aufgrund der Ergebenheit der alten Ränge gegenüber Deng Xiaoping.

„Wenn Deng erst stirbt wird der chinesische Geist gewiß aus der Flasche kommen.“

Ein Student rät indes seinen Kommilitonen zur Vorsicht: „Als Geschichtswissenschaftler bin ich eher pessimistisch. Was am Ende zählt sind die Ökonomie und die Bauern und natürlich die Arbeiter. Aber die Arbeiter sind im Grunde auch Bauern und die Armee ist im Grunde eine Bauernarmee. Wir leben in einer Gesellschaft, die noch immer nach einem einen Kaiser verlangt.“

Larry Jagan