Unternehmerische Kreativität bleibt auf Buchführung beschränkt

■ Konservative und Demokratiebewegung wetterten scheinbar gemeinsam gegen Folgeerscheinungen der Wirtschaftsreform, die einen gegen Kaderkorruption, die anderen gegen private Bereicherung / Mit kreditfinanzierten Steuern und einbehaltenen Löhnen subventioniert der Staat seine Betriebe, Private müssen schließen / Von Jochen Noth

Die Fülle, die man von ostasiatischen Basaren erwartet, breitet sich auf den kilometerlangen Straßenmärkten Kantons aus. Selbst vor den grauen, abweisenden Straßenfronten des nördlichen Peking werden Obst, Gemüse, Kleider und allerlei bunter Kram in einer Vielfalt angeboten, von der das triste Osteuropa nur träumen kann. Was soll also das Gerede von der Wirtschaftskrise in China? Die als Grund für die Breite der Volksbewegung des vorigen Jahres genannt wird und die die Wirtschaftsauguren für den Rückgang der westlichen Kredite für China verantwortlich machen? Auch die außenwirtschaftliche Lage der Volksrepublik ist günstig im Vergleich zu anderen Entwicklungsländern, zu deren ärmeren sie ja zählt. Das Außenhandelsdefizit hält sich in Grenzen, im 1.Quartal 1990 gab es einen Exportüberschuß. Der Schuldendienst für internationale Kredite beträgt lächerliche 15 Prozent der Exporterlöse. Kriegt die VR China keine Kredite, weil Weltbanker um Studenten trauern?

Die Demokratiebewegung vom April/Mai 1989 und die Konservativen, die sie unterdrückten, lagen in manchen ihrer wirtschaftlichen Ziele scheinbar gar nicht weit auseinander. Beide wandten sich gegen Folgeerscheinungen der Wirtschaftsreformen und des stürmischen wirtschaftlichen Wachstums der letzten zehn Jahre, Inflation und wachsende Diskrepanzen in den Einkommen. Aber wenn Parteifürsten gegen private Bereicherung wettern, denken sie nur daran, wie sie das schöne Geld in ihrem Staatsladen halten können. Die Demokratiebewegung konzentrierte ihre Kritik auf die Kaderkorruption und forderte weitere wirtschaftliche und endlich politische Reformen, um den Zugriff der „Neuen Klasse“ auf den staatlich gebundenen Reichtum zu brechen.

Die Rückkehr zu einer mehr zentralplanerischen Politik hatte Ende 1988 begonnen. Die breite der Massenproteste vom Frühjahr 1989 war schon eine Antwort auf Einkommenskürzungen steigende Arbeitslosigkeit und die Strangulierung kleiner Einzelgewerbe. Die Niederschlagung der Demokratiebewegung und der Sturz des KP-Generalsekretärs Zhao Ziyang besiegelten die neue Linie. Programmatisch formuliert wurde sie dann im November 1989 in den „39 Punkten zur wirtschaftlichen Sanierung und Rektifikation 1990/92“ des ZK der KPCh.

Stärkung des Plans und strengere Bewirtschaftung von Rohstoffen und Halbprodukten, Wiedereinführung der Preisbindung für wichtige Konsum- und Produktionsgüter, Drosselung der Kredite, Einschränkung der Außenhandelsrechte der Regionen, Abschöpfung von Kaufkraft durch staatliche Zwangsanleihen und stärkere Besteuerung der kleinen Selbständigen und Kollektive - das sind einige der Maßnahmen, mit denen die Inflation von über 30 Prozent und das überhöhte Wachstum großer Teile der Industrie (bei Stagnation der Energieversorgung und des Verkehrswesens) unter Kontrolle gebracht werden sollen.

Zugleich wurden wichtige Elemente der Wirtschaftsreformen seit 1980 nicht angetastet, weder die Landwirtschaftsreform trotz gelegentlicher dunkler Drohungen noch etwa die Sonderwirtschaftszonen, die sich als Motoren der Reform erwiesen haben. Sie wurden im letzten Jahr sogar ausgedehnt.

Scheinbar trifft die Kreditsichel, mit der das überhitzte Wachstum gekappt wurde, alle Betriebe gleichermaßen. Das Investitionsvolumen ging 1989 real um 20 Prozent zurück. Hauptopfer waren aber nicht die maroden Staatsbetriebe, sondnern die Privat- und Kollektivbetriebe, die in den letzten Jahren zu zig Millionen in den Städten und noch mehr in den Landgebieten der reicheren Provinzen entstanden waren und deren Produktion jährlich um 40 bis 50 Prozent wuchs. Bis Ende 1989 hatten rund fünf Millionen ländliche Industriebetriebe mit rund 43 Millionen Beschäftigten zugemacht.

Kreative Buchführung

Die Mehrzahl der großen staatlichen Betriebe geriet zwar durch die Verknappung des Geldes noch tiefer in die roten Zahlen, kaum einer mußte aber schließen. Die Hongkonger 'Far Eastern Economic Review‘ hat beschrieben wieso. Sie ging der ungewöhnlichen Erscheinung nach, daß die Staatseinnahmen 1989 überdurchschnittlich wuchsen, während das Wachstum des Bruttosozialprodukts seinen niedrigsten Stand seit zehn Jahren erreichte. Eigentlich muß der Staat ja, wenn weniger produziert wird, mit weniger Geld rechnen. Um sich ihre Haupteinnahmequelle, die Betriebssteuern, zu erhalten, lieh die Regierung einfach den Betrieben aus den knappen Kreditmitteln das Geld für die Steuern. Damit konnten die Betriebe zwar keine neuen Maschinen oder Rohstoffe kaufen und die Produktion wie die Arbeitsproduktivität stagnierten oder schrumpften, aber sie gingen rein buchhalterisch nicht bankrott. Der Staat konnte sich so nicht nur selbst stärken (Wachstum des Militärhaushalts 1990: +15 Prozent), sondern er fütterte auch jenen verhängnisvollen Subventionskreislauf, der die Wirtschaften Osteuropas nicht nur buchhalterisch sondern ganz materiell in den Bankrott getrieben hat. Die Ausgaben für Preissubventionen und direkte Zuschüsse für defizitäre Staatsunternehmen betragen in diesem Jahr über 30 Prozent der staatlichen Ausgaben.

Die Hongkonger Zeitschrift nennt diese Manipulation „kreative Buchführung“, humorlos kann man auch Bilanzbetrug sagen. Bezahlt wird das unter anderem mit Zwangsanleihen auf die Löhne. Ein Teil des Lohnes wird aus „Solidarität“ mit dem Staat auf unbestimmte Zeit gegen niedrige Zinsen einbehalten. Diese Anleihen haben in den letzten Monaten 1989 bis zu 70 Prozent der fälligen Lohnzahlungen und im Jahresdurchschnitt etwa zwölf Prozent der gesamtwirtschaftlichen Lohnsumme erreicht.

Das Ergebnis dieser Politik ist Stagflation, gleichzeitige Stagnation und Inflation: Der Kredit ist knapp, die Produktion ist runter, die Kaufkraft wird abgeschöpft, der Konsum geht zurück, aber die Inflation bleibt hoch: 17,8 Prozent im Jahresdurchschnitt 1989, weil der Staat ständig neues Geld in die eigenen defizitären Betriebe pumpt. Und da wunderte sich noch die Pekinger Volkszeitung, daß die Leute weniger kaufen, obwohl die Märkte doch voll seien.

Letztlich verhindert die in der Wirtschafstreform wiederhergestellte kleinbäuerliche Landwirtschaft bis jetzt, daß sich die Verschlechterung der Lage in unverhülltem Massenelend auch in den wohlhabenderen östlichen Landesteilen auswirkt. Ihr Wachstum betrug im vorigen Jahr noch knapp drei Prozent, obwohl Dünger und Saatgut, Dieselöl und Maschinen völlig überteuert waren. Die Preise für Getreide, Gemüse und Fleisch aber staatlich gedrückt wurden. Die Landwirtschaft vermag es, die aus der Industrie zurückflutenden Arbeitskräfte mitzuernähren und den Städten immer noch ein ausreichendes Nahrungsmittelangebot zu liefern. Die alt-neuen Planwirtschaftler im Pekinger ZK hüten sich deshalb, die nach 1980 entstandenen Marktstrukturen wieder ganz zu zerstören.

Die Reformpolitik war aber in die Krise geraten, weil das Nebeneinander von Marktwirtschft und Planwirtschaft zu kostspieligen Verzerrungen der volkswirtschaftlichen Gleichgewichte geführt hatte. Der Versuch, die erneute Krise durch Stärkung der Planwirtschaft und des staatlich -bürokratischen Sektors zu lösen, wird früher oder später alle Vorteile aufzehren, die China durch Landreform, Zulassung eines begrenzten freien Markts, Ausweitung des nichtstaatlichen Sektors und Öffnung nach außen gegenüber den sozialistischen Bruderländern gewonnen hatte.