„Europas Nationen reichen sich die Hände gegen die Dritte Welt“

■ Interview mit der indischen Feministin und Ökologin Vandana Shiva über das Scheitern des Realsozialismus und die Auflösung der weltpolitischen Blöcke, über das „EineWelt„-Bewußtsein und die „sanften“ Technologien / „In der Dritten Welt gibt es weiterhin einen großen Bedarf an Sozialismus“

taz: In Europa scheint man zur Zeit völlig mit sich selbst und dem europäischen Vereinigungsprozeß beschäftigt zu sein. Menschen, die sich für die Dritte Welt engagieren, warnen davor, daß über der Ost-West-Politik die Probleme der armen Länder vergessen werden. Sehen Sie eine solche Gefahr?

Vandana Shiva: Diese Gefahr besteht tatsächlich, denn die Erste Welt hat heute die Fähigkeit, die Ressourcen der Dritten Welt zu nutzen, ohne die Menschen der Dritten Welt zu brauchen. Nach zwei Jahrhunderten der Kolonisation, nachdem die natürlichen Strukturen zerstört sind und es überall Monokulturen gibt, wirft man diese Menschen weg wie Müll. Es gibt aber auch Länder, die als Märkte und Lieferanten von Rohstoffen weiterhin wichtig sind für die Erste Welt - sie werden in Zukunft noch stärker diszipliniert. Die Dritte Welt wird selektiv genutzt, um die neue Runde des kapitalistischen Wachstums zu nähren. Die Vereinigung von Europa ist in der Tat nur nützlich und nutzbar gegen die Dritte Welt.

Hierzulande wird seit dem Beginn der neuen Ost-West-Politik das Scheitern des Sozialismus konstatiert. Der Trend der osteuropäischen Länder gen Westen, der Niedergang ihrer Volkswirtschaften und ihre dramatischen ökologischen Probleme beweise endgültig - so wird fast ohne Diskussion festgestellt - die Überlegenheit der kapitalistischen Wirtschaft und des freien Marktes. Sieht man das in der Dritten Welt genauso?

Für die Dritte Welt ist es entscheidend zu verstehen, welche Art von Sozialismus in Osteuropa gescheitert ist. Es ist der zentralisierte, hochindustrialisierte und hochmilitarisierte Sozialismus, der entstanden war aus der europäischen Industrialisierung und aus europäischen Kriegen. Die Logik der sozialen und ökonomischen Organisation war aber die gleiche wie im Westen, nur etwas zentralisierter vom Staat. In der Dritten Welt gibt es weiterhin einen großen Bedarf an Sozialismus, um gegen den neuen Stand der Ungleichheit zu kämpfen. In unseren Zusammenhängen ist es sehr wichtig, Konzepte von Gerechtigkeit lebendig zu erhalten. Der Kampf um den Sozialismus beginnt für uns jetzt, nachdem die Ablenkung durch die Konfrontation zwischen den beiden Supermächten nachgelassen hat.

Wenn die Konfrontation zwischen den USA und der UdSSR nachläßt, ist das eine Chance für die Länder der Dritten Welt?

Ich sehe dabei zwei Aspekte. Wenn die Konfrontation zwischen den Supermächten nachläßt, braucht die Rüstungsindustrie trotzdem weiterhin Märkte. Und diese vielen kleinen, aber ständigen Kriege in Ländern der Dritten Welt - im Libanon, in Afghanistan, in Sri Lanka, im Punjab und in Kaschmir - basieren auf dem gleichen militärischen System. Es gibt ganz klare Anhaltspunkte dafür, daß das Nachlassen der militärischen Bedrohung im Norden zu einem sprunghaften Anstieg der militärischen Auseinandersetzungen in der Dritten Welt geführt hat. Der einzige positive Aspekt an der Entspannung zwischen den USA und der UdSSR für die Dritte Welt ist, daß nun der Konflikt zwischen den Supermächten nicht mehr von den wirklichen politischen und ökonomischen Gründen ihrer Abhängigkeit ablenkt.

Hat die Dritte Welt jetzt, da die Blöcke bröckeln, mehr Freiheit zu denken und zu entscheiden, was sie wirklich will?

Nein, nicht mehr Freiheit zu denken, was sie wirklich will, sondern mehr Möglichkeiten klar zu sehen, wie der Kapitalismus funktioniert. Nun ist viel klarer, daß die europäischen Nationen sich die Hände reichen gegen die Dritte Welt.

Bei uns gab es gerade eine breite Medienkampagne für „Eine Welt“, in der - wie in fast allen Öffentlichkeitskampagnen für die Dritte Welt heutzutage - die ökologische Krise und ihr weltweiter Zusammenhang ein Schwerpunkt war. Meinen Sie, daß in der westlichen Welt tatsächlich das Bewußtsein wächst, daß es nicht eine erste, zweite und dritte, sondern nur eine Welt gibt?

(lacht) Das Bewußtsein, daß es eine Welt ist, wächst tatsächlich - aber im alten imperialistischen Sinne. Daß es eine Welt ist und alles uns gehört und alle anderen Leute, die wirklich die Einwohner des Landes sind, Eindringlinge sind in dieser einen Welt von uns. Der Regenwald gehört uns, weil er Einfluß auf das Klima hat, in dem wir leben - warum, um Himmels wollen, können dann die Brasilianer mit dem Regenwald machen, was sie wollen?! Wir waren so frei, den Regenwald zu zerstören, als es uns paßte. Aber die Brasilianer sind nicht so frei, den Regenwald zu zerstören, weil es uns jetzt nicht mehr paßt.

Möglicherweise ist die politische und ökonomische Praxis auf internationaler Ebene so unterdrückerisch, aber wir sprachen über das Bewußtsein. Meinen Sie denn, die Leute, die sich für „Eine Welt“ und Ökologie interessieren, sind sich dessen bewußt oder gar damit einverstanden?

Ich meine, da ist überhaupt kein Bewußtsein darüber da, wie sehr die Produktion, der Konsum und der ganze westliche Lebensstil auf der Zerstörung der Dritten Welt beruht. Hier glaubt man, alles, was wir brauchen, um Wohlstand zu schaffen, sind neue Technologien - so, als schafften neue Technologien aus dem Blauen heraus den Reichtum. Es gibt keinerlei Bewußtsein darüber, wie die Natur arbeitet, daß das bestehende System die Zerstörung der Natur einschließt. Aber es gibt ein hohes Bewußtsein über die Gefahren, die die Dritte Welt in die Erste bringt. Deshalb stehen im Brennpunkt des Interesses die Bevölkerungsfragen und der Versuch, die Dritte Welt in der Umweltpolitik zu kontrollieren.

Was müßte sich denn in den westlichen Ländern konkret ändern? Wenn ich Ihre politischen Theorien höre, kann ich sie auf hochindustrialisierte Länder schlecht übertragen. Es gibt für sie kein einfaches Zurück zur Selbstversorgung auf lokaler Ebene.

Situationen verändern sich nicht über Nacht. Der erste Schritt in eine ökologische Zukunft für alle auf dem Planeten wäre, ehrlicher und offener anzuerkennen, welche Kosten die industriellen Prozesse tatsächlich innerhalb und außerhalb der Grenzen des Nordens verursachen. Dann wäre es möglich zu sehen, wie viel von der Natur geraubt und zerstört wird. Dann findet jede Gesellschaft Wege, die Zerstörung einzudämmen und sich anzupassen.

Wenn man im Westen über die Kosten der Industrialisierung diskutiert, wird sofort der Ruf nach neuen Technologien laut, die weniger Energie verbrauchen und deshalb auch als „sanft“ bezeichnet werden.

Eine dieser neuen und „sanften“ Technologien sollen die Bio - oder Gentechnologien sein. Heutzutage nimmt man allgemein an, die fossilen Energieträger und die chemische Industrie seien die Hauptprobleme, und man glaubt, mit den neuen Technologien würde man diese Probleme irgendwie loswerden. Woran man nicht denkt, ist das grundlegende ökologische Prinzip des Lebens auf diesem Planeten: Wie reproduziert die Natur sich selbst und wie verhalten sich die neuen Stoffe, die wir in die Natur bringen? Jetzt wird eine neue Runde eingeläutet: Jetzt kommt der noch gefährlichere, irreversible Schäden anrichtende Abfall aus der Gentechnik.

Bringen diese neuen Technologien spezielle Gefahren für Frauen?

Frauen sind immer dann besonders gefährdet, wenn die Biologie und die Reproduktion betroffen sind. Beispielsweise sind Chemikalien für Frauen besonders gefährlich. Sie schaffen Unfruchtbarkeit, Problemschwangerschaften, Fehlgeburten und Mißbildungen bei Neugeborenen. Das erkennt man heute, etwa in Bhopal, wo fast alle Frauen, die überlebten, anschließend diese Probleme hatten. Was die Gentechnologie jedoch noch gefährlicher macht als die chemische Industrie: Sie zielt auf den Körper der Frau, auf Reproduktion als eine Hauptquelle des Geschäfts. Der Körper der Frau wird zu einem neuen Ort für die Kapitalakkumulation. Das ist ein riesiger Markt schließlich gibt es viele Frauen auf diesem Planeten.

Interview: Gunhild Schöller