Ein Pyrrhussieg

Vor einem Jahr wurde die Demokratiebewegung auf dem Tian'anmen niedergeschlagen  ■ K O M M E N T A R

Es ist eine Wende gewesen, die da so blutig in der Nacht vom 3./4. Juni inszeniert wurde. Ging es doch nur vordergründig um die Niederschlagung einer studentischen Bewegung, die schon längst wieder abgeflaut war. In den April- und Mai -Tagen des vergangenen Jahres tobte ein doppelter Kampf in China: Der eine, sichtbare, wurde auf der Straße ausgetragen und erhielt seine Brisanz dadurch, daß die politischen Forderungen der Studenten auf so breite Resonanz einer städtischen Bevölkerung stießen. Der andere Kampf tobte in kaum geringerer Erbitterung hinter den Kulissen, ging es hier doch um die Frage, auf welchem Kurs China zukünftig fortfahren sollte.

Der Reformprozeß war seit geraumer Zeit an einen Punkt gelangt, an dem das bürokratische System selbst die entscheidende Fessel war, die den Durchbruch zur Modernisierung des Landes verhinderte. Diese Fessel zu durchschneiden hätte aber eine Zurückdrängung der Partei aus allen gesellschaftlichen Bereichen bedeutet. Eine Option die von der Gruppe Zhao Ziyang verfolgt wurde. Damit stellte sich aus der Sicht der Konservativen aber die Machtfrage, waren ihre Privilegien zur Disposition gestellt.

Insofern mußte die Empörung auf dem Platz des himmlischen Friedens wie ein Geschenk erscheinen. Die Niederschlagung der Demokratiebewegung wurde zum Anlaß, die Reformfraktion mitauszuschalten, deren Dialogbereitschaft sich leicht als Kumpanei - wenn nicht gar als Drahtziehertum - hinstellen ließ.

Paradoxerweise haben die späteren Ereignisse in Osteuropa die Gerontokraten bestätigt. Das Schicksal des despotischen Bruders Ceausescu, auf den man bis zuletzt so große Stücke setzte, hat hier Wirkung gezeigt.

Das Gerede von Reform und Öffnung ist reines Lippenbekenntnis. Tatsächlich herrscht Friedhofsruhe im Land. Die Intellektuellen, die Künstler, die Studenten, die reformfreudigen Wirtschaftsleute, haben die Köpfe eingezogen. Die Betonfraktion, Parteikader auf allen Ebenen, die in den letzten Jahren nicht mehr wußten, welche Rolle sie noch zu spielen hatten, konnten wieder Tritt fassen. Doch mit dieser Friedhofsruhe ist kein einziges der Probleme gelöst, die doch Anlaß für die Reformen waren. Insofern kann der Sieg der Armee nur ein Pyrrhussieg gewesen sein.

Auch wenn das Ausland allen voran die Japaner zum „business as usual“ zurückgekehrt ist - nach dem Schock kam die Ernüchterung. Die naive Vorstellung, China sei bereits auf dem Weg zum Kapitalismus, hat der Erkenntnis Platz gemacht, daß die bürokratische Gängelung einer „Eroberung des chinesischen Marktes“ nach wie vor Grenzen setzt.

In dem Maße wie China zur alten Orthodoxie zurückfindet, sich gleichzeitig das sozialistische Lager in Osteuropa aufgelöst hat und auch die weitere Entwicklung der Sowjetunion in die entgegengesetzte Richtung verläuft, muß China notgedrungen zur alten ideologischen Frontstellung zurückfinden, sich als letztes Bollwerk des Sozialismus gerieren und wird Gorbatschow ganz persönlich für den Zusammenbruch des Systems verantwortlich gemacht.

Die Blutnacht zeigt gerade im dramatischen Kontrast auch zu Osteuropa, daß es offenbar keinen dritten Weg - den im Prager Frühling so viel beschworenen „Sozialismus mit menschlichen Antlitz“ - gibt. Der Stalinismus in seinen vielen Schattierungen war doch keine pathologische Abweichung, sondern immer eine Notwendigkeit des Systems.

Langfristig wird auch China nicht an einer radikalen Änderung des Systems vorbeikommen, nicht nur weil anders die wirtschaftliche Modernisierung nicht vorankommt, sondern auch, weil der gesellschaftliche Prozeß unteilbar ist, Demokratie kein Projekt ist, das nur für den Westen Güligkeit besitzt.

Ulrich Menzel, Politikwissenschaftler, Ffm