Rationalität als Dogma?

■ Der „Argument-Club“ der FU zur Auseinandersetzung um den australischen Ethik-Professor Peter Singer

Dahlem. Kaum besser als von den StudentInnen selbst ist der von ihnen postulierte „freie rationale Diskurs“ nicht ad absurdum zu führen. Sie plädieren für das rationale Argument und gegen die Beliebigkeit von Intuition und Dogmatismus und wollen doch nichts anderes sagen als: anything goes. Sie beschwören damit den Mythos der freien Rede, der seine Kraft einzig aus der Opposition gegen das Unwahre, uns ins Verderben stürzende Intuitive bezieht.

Die geforderte „wertfreie“ Diskussion verkehrt sich so ins Gegenteil. Sie schwingen sich auf das Podest, erheben den Diskurs in den Stand einer neuen moralischen Instanz, die so viel mehr Freiheit verspricht als die alte autoritäre Kirche und merken nicht, wie sie deren Irrtümer wiederholen. Das Lebensrecht ist jetzt nicht mehr autoritativ, „dogmatisch“ festgelegt, aber in dem Modus des „Aushandelns“ verbleibt es in den Fängen der Fremdherrschaft. Statt der Moralwächter gibt es nun deren selbsternannte „Händler“, die in dem „gesellschaftsfreien Raum“ der Universität über das Lebensrecht von Schwerkranken, Behinderten etc. befinden und damit die ethischen Probleme der Krankenschwestern und Ärzte lösen helfen wollen. Wer wollte dagegen sprechen, daß sich auf den Fluren der Krankenhäuser tagtäglich die Not, zwischen Leben und Tod entscheiden zu müssen, artikuliert? Aber ist denn die Ethik da der richtige Ort, von dem aus die Probleme angegangen werden können?

Segnet sie nicht nur das ab, was bereits durch die Innovation im Bereich der Gen-, Repro- und Medizintechnik entschieden worden ist? Doch wird ihre enorme Macht verkannt, wenn ihre Funktion nur als „Dienstleistungstechnik“ verstanden wird. Sie drückt nicht nur den Stempel der Legitimität auf, sondern wirkt mit an deren Herstellung. Müßte das für die Philosophie als Reflexionswissenschaft nicht zur Konsequenz haben, daß über das Verschweigen dieses gesellschaftlichen Zusammenhangs geredet wird, um eben nicht von der Ausweglosigkeit in die nächste zu fallen? Genau dies passiert, wenn sie die Thesen Singers „aus sich heraus“ sprengen wollen, und dabei unbesehen in seine Redeform des Rationalen springen. Aber sie geraten damit nicht nur in die „stumme“ Form des Ideologischen, sondern werden zu dessen Sprecher, wenn sie für Singer Partei ergreifen: „Singer rechtfertigt nicht die Tötung von behindertem Leben“, heißt es dann, zudem auch noch fälschlicherweise.

Die Störung der Krüppelinitiative mag eine Verletzung der Normen der Seminarethiker bedeuten, sie als bloß intuitiven Akt zu verunglimpfen und sie damit in die Ecke des Faschismus zu verweisen, diskreditiert die Redner selbst. Der Skandal liegt aber darin, daß die Veranstaltung nämlich die Störung - für die Sache selbst genommen wurde, denn wäre es ihnen um eine Verständigung gegangen, hätte die Krüppelinitiative in der Seminarkonzeption berücksichtigt werden müssen. Gegen diese akademische Ignoranz haben sie interveniert. Ihr Verdienst sollte darin liegen, daß in Zukunft nicht einer „praktischen Ethik“ das Wort erteilt wird, sondern deren gesellschaftliche Praxis untersucht wird, auf der sie gebaut werden konnte.

Argument-Club, AG-Ethik: Gabi Stilla, Klaus Gramilch, Andreas Kather