Die Fernsehbilder der Revolution auf dem Prüfstand

■ „Mainzer Tage der Fernseh-Kritik“ diskutierte die Rolle des Mediums im Prozeß der Umgestaltung

Die Bilder, so war in dieser Zeitung nach dem Fall der Berliner Mauer zu lesen, sie machen besoffen. Immer wieder diese Bilder von den lachenden, weinenden DDR-Bürgern, die die Grenzanlagen stürmen und mit ihren Trabis den Kurfürstendamm okkupieren. Von einem Freund in der DDR weiß ich, daß er in jenen Tagen zwei Fernsehapparate übereinander stellte, den einen auf einen West-, den anderen auf einen Ost-Sender programmiert, um ja nichts zu verpassen. Die Qualität dieser Bilder, die Güte der Berichterstattung, sie stand jetzt bei den „Mainzer Tagen der Fernseh-Kritik“ auf dem Prüfstand.

ZDF-Intendant Dieter Stolte, der Gastgeber, legte eingangs die Meßlatte für die Kritik hoch. Denn nicht weniger als den Einfluß der Medien auf die politische Entwicklung in der DDR und die Demokratisierung im Osten wollte er ergründet sehen, um so, gegebenenfalls, alte, medienspezifische Grundsätze in Frage stellen zu können.

Was ist daraus geworden? Zunächst wurde erst einmal Zufriedenheit demonstriert, denn in einer Zeit, in der die nachrichtliche Dokumentation faszinierender war als jeder Film, als jede Fiktion, da war das Bildermedium Fernsehen, speziell das öffentlich-rechtliche, zur Höchstform aufgelaufen. Was auch damit zusammenhängt, daß die Ereignisse so ganz nach den Gesetzen des Mediums und dem Geschmack des Zuschauers waren, fernsehgerecht sozusagen. Das Fernsehen war nicht nur Medium, Zeuge und Dokumentarist, sondern auch „Keilriemen der Revolution“, wie es Klaus Bresser, der Chefredakteur des ZDF formulierte.

Aber auch Selbstkritik stand auf dem Programm. Allerdings trat sie eher im Gewand der nachträglichen Rechtfertigung für unterlassene Analyse, geringe Differenzierung und mangelnde journalistische Intervention auf, denn als radikale Einsicht. „Wir haben uns vor der Wende“, so Bresser, „zu sehr am Mainstream orientiert, der den Status quo der DDR anerkannte. Das hat dazu geführt, daß wir den Autoritäten mehr trauten, als unseren eigenen Augen.“ Damit sollte der Vorwurf entkräftet werden, das Massenmedium Fernsehen hätte sich mit einem oberflächlichen Bild der DDR -Realität zufrieden gegeben.

Härter ging da schon Fritz Pleitgen, Chefredakteur des WDR, mit sich und seinem Gewerbe ins Gericht: „Wir betreiben jovialen Journalismus und sind oft nicht mutig genug, die heißen Themen zu behandeln“, merkte er selbstkritisch an. „Wir haben die Frage der deutschen Einheit nicht wirklich aufgerollt, das Thema nicht gebührend behandelt.“ Der devote Gestus dieser Selbstkritik war dem Urgestein des Deutschen Fernsehens, Hans Abich, einst Intendant in Bremen, dann doch zu viel. Er donnerte: „Es gehört doch kein Mut dazu, zu sagen, daß uns das alles zu schnell geht.“ Damit aber war das Thema auf dem Tisch, das diese 23. Mainzer Tage über weite Strecken beherrschte: Der Prozeß der deutsch-deutschen Vereinigung.

Der Hieb von Dietrich Leder, dem Kölner Fernsehkritiker, der in einer pointierten Analyse Die Tage im Herbst im West-Fernsehen unter die Lupe genommen hatte, ging in die gleiche Kerbe. Er konstatierte, daß das bundesdeutsche Fernsehen das nationale Fieber zwar nicht angeheizt, aber doch verstärkt habe. Deshalb bekamen die Medienmacher von ihm auch nur die halbe Absolution: Das System hat nicht versagt, aber auch nichts Überdurchschnittliches geleistet.

In seinem Einleitungsreferat hatte der Frankfurter Sozialwissenschaftler Helmut Dubiel das Modell einer radikal verstandenen Öffentlichkeit skizziert und so an ein Ideal erinnert, das seit der französischen Revolution die modernen westlichen Demokratien begleitet. Doch bereits als der rumänische Lyriker Mircea Dinescu über die entscheidenden Stunden des Umbruchs in seinem Lande berichtete, zeigte sich die Abstraktheit des dort formulierten radikalen Öffentlichkeitsanspruchs. „Mit circa 2.000 Leuten haben wir das Fernsehen gestürmt“, berichtete der Held der rumänischen Revolution. „Dabei haben wir darauf geachtet, wer vor das Fernsehen treten darf, und abgesprochen, was sie vor der Kamera sagen dürfen, was nicht.“ Die anarchistisch anmutenden Bilder, die zum Jahreswechsel auf unsere Mattscheiben kamen und die uns als Ausdruck eines radikalen Umbruchs erschienen, sie waren folglich abgesprochen, abgekartet. Wo aber sonst, so muß man fragen, wenn nicht hier, in solch geschichtlichen Umbruchsituationen, sollten sich die Formen einer radikalen Öffentlichkeit entfalten?

Da hatte der Mann aus Rumänien unserem idealisierenden Blick - von wegen Revolutionäre Öffentlichkeit, so der Titel der Veranstaltung - erst einmal einen gewaltigen Dämpfer verpaßt. Denn natürlich ist mit jeder Kamera, mit jeder Sendung ein vermeintliches Potential an Beeinflussung, an Macht verbunden, das selbst der aufgeklärte Politiker westlichen Zuschnitts für seine Interessen einzusetzen sucht. Und warum sollen die Länder, die den Prozeß der öffentlichen, der politischen Willens- und Entscheidungsfindung erst erlernen, einsichtiger sein als wir.

Das Fazit in bezug auf die Konstitution radikaler Öffentlichkeiten im Osten Europas, es fällt denn auch ernüchternd aus: Denn alle Demokratisierungsversuche haben ein zentrales Problem: den Mangel an Zeit. Dieser Mangel ist aber ein grundlegender Feind jeder sich entfaltenden Öffentlichkeit, ist der fortwährende Diskurs doch das Lebenselexier jeder Demokratie.

Mit dem Zusammenbruch der Systeme im Osten ist aber auch das in diesen Gesellschaften vorherrschende Bild vom Journalisten obsolet geworden. Das aber bringt neue Probleme. Janusz Reiter aus Polen stellte deshalb die Frage, wie eine Regierung zu kritisieren sei, die man nicht stürzen will: „Wo sind die Grenzen der Kritik in einer instabilen Lage?“ Walter Janka aus der DDR, ehemals Leiter des DDR -Aufbau-Verlages, gab deshalb den Rat, nicht länger auf Vorgaben von oben zu warten, sondern dem eigenen Gewissen zu trauen, was auch mal falsch sein könne. Daß das beschädigte journalistische Selbstverständnis auch die reine DDR-Runde dominieren sollte - die die medienpolitischen Perspektiven der DDR diskutierte -, war zu erwarten. Denn unabhängig von der zukünftigen Struktur des DDR Fernsehens - ob als dritter öffentlich-rechtlicher Sender oder als ARD-Mitglied -, wie kann das gelingen, mit denjenigen journalistischen Profis einen neuen Rundfunk aufzubauen, die jahrzehntelang den Doktrin der SED verpflichtet waren? Soll das Fernsehen dann sowohl in seiner Struktur als auch den Inhalten die Identität der DDR-Bürger vergegenwärtigen, dann kommen da Erwartungen von kolossalem Ausmaß auf das Medium zu. Viel Zeit bleibt nicht, die Konkurrenz um den Einschaltknopf setzt diesem Prozeß enge Grenzen.

Bei aller Selbstgefälligkeit, die versammelten Programmverantwortlichen im öffentlich-rechtlichen Olymp machten den Eindruck, als trauerten sie über die verpaßte Chance des Mediums darüber, in den rasanten Prozeß der Vereinigung nicht engagiert genug eingegriffen zu haben. Wobei nicht recht klar war, ob das zum Ritual gehört oder ernstzunehmende Selbstkritik ist. Bleibt zu hoffen, daß die demonstrierte Einsicht auch praktisch wird. Denn das sei vorweggesagt, bei dem von den Mainzern anvisierten Thema der nächsten Tagung dürfte das Medium nicht so gut wegkommen. Es soll nämlich Das Fernsehen als Faktor und Medium der ökologischen Wende diskutiert werden. Anett Krämer, die in einer Promotionsarbeit das Verhältnis von Massenmedien und Umweltproblematik analysiert hat, ist bereits zu dem wenig schmeichelhaften Ergebnis gekommen, daß die Umweltberichterstattung zerstückelt und konzeptionslos sei. „Die massenmediale Informationsvermittlung ist reaktiv und in Anbetracht der Brisanz von Umwelproblemen im hohen Maße unzulänglich“.

Am Schluß will ich ein ganz persönliches Erinnerungsbild vergegenwärtigen, das an die Tage des Umbruchs in der DDR erinnert. Ich meine die Bilder vom „Runden Tisch“, die das öffentlich-rechtliche Fernsehen aus dem Schloß Niederschönhausen übertrug. Sie sind nicht, wie die eingangs zitierten, laut, überwältigend, spektakulär und emotional. Im Gegenteil. Die Live-Übertragung war langatmig und zäh: Da wurden seitenlang vorbereitete Stellungnahmen verlesen, Ergänzungen vorgetragen, Fragen gestellt, Antworten gegeben, diese durch weitere Texte komplettiert usw. Die Gesprächsgeduld der DDR-Bürger, das war das Faszinierende dieser Tage. Eine Geduld, die jedem Argument interessiert sich zuwandte, die der Widerrede noch Raum gab, ohne ihr ins Wort zu fallen, vor allem aber, die die andere Meinung noch ergründen wollte. Das war das Ungewöhnliche in einem Medium, das durch Hektik und Ungeduld geprägt ist. Ließ man sich auf die Übertragung vom „Runden Tisch“ ein, dann war sie so spannend wie ein Krimi, war man als Zuschauer doch Zeuge eines Prozesses der Selbstverständigung, in der ohne Zeitnot die Sprache wieder angeeignet, um Meinungen gerungen und damit die Produktivkraft Kommunikation entfaltet wurde.

Das Fernsehen, es kann schlecht ein Kommunikationsinstrument der Revolution sein, zu aufwändig ist die Technik, die die Bewegungsfreiheit und Handhabbarkeit einschränkt. Was es aber kann, das ist den Rezipienten via Bildschirm am Diskurs zu beteiligen. Wenn dieser dann noch - wie oben - Herrschaftsansprüche öffentlich rechtfertigt und erörtert, dann kommt das dem Modell einer radikalen Öffentlichkeit schon verdammt nahe. Und das ist nicht wenig.

Karl-Heinz Stamm

(Eine Zusammenfassung der „Mainzer Tage der Fernseh-Kritik“ zeigt das ZDF um 22.40 Uhr)