Weitermachen, über die Grenzen hinweg

Auf ihrem ersten Kongreß etabliert sich die „Radikale Linke“ als breites politisches Bündnis gegen Wiedervereinigung und aggressiven Kapitalismus / Bei vielen spannenden Themen konnte die Diskussion nicht genügend in die Tiefe gehen / Dennoch: Neue Denkanstöße  ■  Von Ferdos Forudastan

Wladimir: „Wir haben uns der Natur zugewandt.“ - Pause. Estragon: „Was machen wir jetzt?“ - Pause. Aus Samuel Beckett

„Warten auf Godot“

Schallendes Gelächter brach aus, dann klatschten alle heftig und lange Beifall: Thomas Kieseritzky, Rechtsanwalt aus Frankfurt, hatte die vergangenen zehn bis zwölf Jahre der BRD-Linken mit diesem Dialog aus dem berühmten Theaterstück von Samuel Beckett resümiert - und damit offenkundig die Gemütslage von über 1.400 BesucherInnen der Auftaktveranstaltung zum ersten Kongreß der „Radikalen Linken“ genau getroffen. „Was machen wir jetzt“, legte Thomas Kieseritzky nach. Und er formulierte damit eine entscheidende Frage für die folgenden Diskussionen oder, was eine entscheidende Frage hätte sein sollen.

Was machen wir jetzt? Wer sind wir überhaupt? Wer sind wir jetzt, nach dem Ende des „realen Sozialismus“ und vor der Wiedervereinigung, und wie gehen wir gemeinsam mit beidem um? Zwischen 1.000 und 1.500 Menschen waren am Wochenende aus allen Teilen der Bundesrepublik zur Zentralmensa der Kölner Universität gereist, um denkbare Antworten zu diskutieren, denkbar für Mitglieder des Kommunistischen Bundes wie für sogenannte Erneuerer der DKP, für Nicht-mehr -Grüne (Promis) wie für Noch-Grüne (Promis), für Trotzkisten, Autonome, Feministinnen, organisierte AusländerInnen, aktive AntirassistInnen, engagierte InternationalistInnen... Für so viele verschiedene Gruppen und Individuen also, daß schon das einzig greifbare Ergebnis dieses Wochenendes überraschte: Die „Radikale Linke“, vor ungefähr einem Jahr von einem exklusiven, kleinen Kreis bundesdeutscher Linker gegründet, macht weiter: als breites Bündnis nach der großen Demonstration gegen die Wiedervereinigung am 12. Mai und nach dem Kongreß vom vergangenen Wochenende plant man für Anfang September ein Nachbereitungstreffen.

Zum Jahrestag des Falls der Mauer am 9.November soll eventuell in Leipzig - demonstriert werden. Überdies verabschiedete man per Akklamation zwei Beschlüsse: Die Einziehung des Vermögens der PDS wird verurteilt. Und das Thema „ethnisch-nationale Minderheiten“ und „neue nationale Frage“ bilden den Schwerpunkt des nächsten Kongresses.

So weit, so erstaunlich konstruktiv für dieses Treffen. Denn nicht allein wegen der politischen Vielfalt der TeilnehmerInnen wäre ein Ende ganz ohne faßbares Ergebnis denkbar gewesen. Allzuviele Themen für einen Gründungskongreß hatte man auf die Tagesordnung gesetzt. Statt sich zu konzentrieren - etwa auf die Analyse der Entwicklung des „realen Sozialismus“ - wollte man schier alles erfassen, was Anliegen linker Politik ist: Wiedervereinigung, Nationalismus, Deutschtümelei, Rassismus, Sexismus, Frauenunterdrückung, Neoeugenik, Antiimperialismus, Naturzerstörung, technokratischen Machbarkeitswahn, das Ende des „realen Sozialismus“, (falsche?) Hoffnung auf Michail Gorbatschow, Perspektiven des gemeinsamen Widerstands und „wie weiter mit der Radikalen Linken“.

All dieses noch mal in Facetten sollten und wollten die geladenen ReferentInnen und die TeilnehmerInnen in acht Runden an den drei Tagen diskutieren. In die Tiefe geriet der Kongreß deshalb selten, viele spannende Fragen wurden nur angerissen, Antworten blieb man sich oft schuldig. Kritik dafür gab's vor allem von Jüngeren: „Eure Standpunkte kann ich mir auch aus Büchern holen. Hier will ich aber diskutieren“, rief etwa ein Fünfundzwanzigjähriger, nachdem der ehemalige Grüne Thomas Ebermann und der Alt-Autonome Karl-Heinz Roth ihre - hinlänglich bekannten - Thesen zu Notwendigkeit und Formen antistaatlichen Widerstands vorgetragen hatten.

Allerdings: Es war nicht nur die Fülle der Themen, die mögliche spannende Diskussionen nur in Ansätzen aufkommen ließ. Zu selten war man bereit, die regelmäßig angekündigte Selbstkritik auch wirklich zu üben, sich, wie versprochen, mit den Fehlern der Vergangenheit auch auseinanderzusetzen, neue Ansätze zu diskutieren. Rainer Trampert, Ex-Grünen -Sprecher, referierte über das Versagen des sowjetischen Systems gestern und unter Gorbatschow - an die Frage einer Teilnehmerin: „Welche wirtschaftspolitischen Konzepte hast du denn dagegen zu setzen?“ mochte er sich offenkundig nicht heranmachen. Georg Fülberth, DKP und Professor in Marburg, beließ es bei der - wenn auch spannenden - Definition von Begriffen: Antikapitalismus, Antifaschismus, Repressive Toleranz. Winfried Wolf, Chefredakteur der 'Sozialistischen Zeitung‘, analysierte die Krise der osteuropäischen Staaten, beschwor die Negation der Negation - und hörte dann auf.

Dennoch: Neben den Allgemeinplätzen, durch allzu unkritisches Handhaben zu Plattitüden verkommenen Wahrheiten, altbekannten und für heute nicht mehr hilfreichen Gesetzmäßigkeiten gab das Treffen Anstöße. Ein Beispiel: „Der Versuch der Wiederherstellung eines Deutschseins ist Konsens geworden“. Diese These hatte zu Beginn des Kongresses Maria Baader vom ehemaligen Berliner „Schabbes-Kreis“ aufgestellt. Ihre Aufforderung, die Anziehungskraft des Phänomens Deutsch und Nation zu analysieren, zog sich durch einige der Diskussionen an den folgenden Tagen hindurch.

Jenseits aller inhaltlichen Erkenntnisse und Fragen ging man am Sonntag abend wohl vor allem mit der Antwort nach Hause, die Thomas Kieseritzky auf die Beckettsche Fage „Was machen wir jetzt?“ gegeben hatte: „Auf keinen Fall warten.“