„ERST HAB‘ ICH MICH GENIERT“

■ Splitter vom 11. Theatertreffen der Jugend Identitäts- und Schaffenskrisen hatten die auserwählten Gruppen ganz sicher nicht. Auch in diesem Jahr hat eine siebenköpfige Jury, bestehend aus dem Leiter Hans Chiout, vier von ihm ernannten Theatermachern, -pädagogen oder -kritikern sowie zwei Jugendlichen aus dem aktiven Kreis des vergangenen Treffens, aus einem Berg von 153 Bewerbungen per Video und aus eigener Anschauung zehn „bemerkenswerte und beispielhafte“ Produktionen aus dem (noch) halben Deutschland usgesucht. Noch stärker als im letzten Jahr waren das vorwiegend Eigenproduktionen und stark bearbeitete literarische Vorlagen, viel Gymnasientheatralik und profigeleitete Jugendspielgruppen des Staats- und Stadttheaters, weil von hier die meisten Bewerbungen kommen. Neu war dieses Mal die Einladung einer Grundschulgruppe, nicht mehr ganz neu, aber noch frisch: die Ostler „Reißverschluß“ und das Theaterstudio im Freizeit- und Erholungszentrum Wuhlheide, allerdings außer Konkur

Applausordnungen

Fragt sich bloß, ob hier nicht öffentliche Steuergelder verpulvert werden, ein Heer von Kreativen gezüchtet wird, während die Volkswirtschaft nach fleißigen Facharbeitern, Angestellten und Polieren verlangt. Schon die Grundschüler wollen später alle Schauspieler werden! Beklatscht werden erzeuge „so'n Kribbeln im Bauch“. Hauptdarsteller Thomas, zehn Jahre, fürchtete schon einen leeren Saal: „Kinder? Da geh ich gar nicht erst rein! Über den Applaus hab‘ ich mich riesig gefreut.“ Doch war er auch rechtmäßig verdient? Festivalleiter Chiout fragte nach: Kinder werden schnell niedlich und entwaffnend gefunden, was dann wieder Auswirkungen auf die Kinder habe.

Dabei ist die Gruppe thematisch ihrer Zeit schon entwachsen: Tango nach Mitternacht handelt davon, „daß eine kleine Beziehung entsteht“. Da wollte man, erzählt Thomas, „den Kindern mal zeigen, daß sie sich was getrauen können in unserem Alter“. Vor jüngeren Kindern haben sie auch schon gespielt, aber „die hatten das wohl nicht so verstanden“.

Als Julia die neue Freundin besuchen will, lernt sie den Bruder Torsten kennen, der ihr den Völkerball auf die Nase gehauen hat: „Was machst du denn hier? - Ich mach‘ die Tür auf!“ Julia muß ihm sogleich bei den Matheaufgaben helfen. Und wie im richtigen Leben verschwindet, als der Mann ins Leben tritt, die Freundin in der Versenkung. Die neue Freundschaft wird schnell zum Ritual („Du willst mich bestimmt wieder zur Schule abholen“) und zur Ausnahme innerhalb strenger Rollenteilung. Da sitzen die Jungs cool vor dem Fernseher und ziehen sich Kultsätze rein a la „fang nie etwas mit Frauen an“. Mächtig ziehen die Mädchen auf, um sie tüchtig abzuscheltern: „Wir gehen jetzt ins Schwimmbad, ätsch“, worauf die Jungs lechzen: „Jetzt heißt's Weiber tunken!“

Nullkommanix spult sich zur musikalischen Umrahmung eine durchkomponierte Massenszene vor improvisiertem Schwimmbecken ab: lärmende Jungs, kreischende Mädels, Badetiere, Taucherflossen und Schnorchel. Ein lebendes Bild voller kleiner Geschichten, nie zu lange ausgespielt. Auch die Discoszene reißt nur eine typische Situation an: Schon die „Kleinen“ wissen offenbar genau, wie man sich in Szene setzt und ziehen selbstverliebt an ihren Haaren.

Theater der Grausamkeit

Die daran anschließende Szene wurde lang diskutiert. Maßt sich doch Torsten an, seine Freundin über ihr aufgeschlagenes Knie mit einem brutalen Maikäferwitz zu trösten, innerhalb dessen dieser zu Tode kommt und Gott gelästert wird. Ein Herr (der Presse?) stellte die Frage nach der Grausamkeit des Kindes im besonderen und der Blasphemie im allgemeinen. Einer anderen Frau ging die Klimax (ein verhuschter Abschiedskuß am Bahnhof) offenbar nicht weit genug: „Warum hat die Zärtlichkeit beim Abschied gefehlt?“ Das war geradezu beleidigend für den Hauptdarsteller, der hart an seiner Rolle gearbeitet hatte, als klar war, „daß auch 'n Kuß reingehört“: „Zuerst hab‘ ich mich geniert, aber dann hab‘ ich gedacht, Theater...“

Über Grausamkeit wurde auch beim Braunschweiger Mädchenmusiktheater „Karamel“ gegrübelt. Mit Grabesstimme befindet die Clique über die neue Lehrerin, die in die Gruppenstruktur des Mädchenpensionats „eindringt“: „Die wird's auch nicht lange machen.“ Mord und Totschlag finden dann aber leider doch nicht statt, sondern eine Farb- und Klangchoreographie aus assoziativen Bildern. Die Schülerinnen leben ihr Wir-Gefühl durchs grüne Gewand aus, die Lehrerin behauptet sich rot. Dann taucht ein roter Schal auf grünem Pullover auf, das verschmähte Tortenstück der Feindin wird gegessen, „damit es nicht kaputtgeht“. Die Clique spaltet sich, trippelt im stilisierten Profil hinter der Lehrerin samt hochgehaltenem Tortenikon her. Am Klavier wird gedrillt, an Schlagzeug und Gitarre sich emanzipiert. „Karamel“ brachte eine(n) Teilnehmer(in) auf die knappe Formel: „Dafür, daß ihr mit Improvisation gearbeitet habt, war es gut. P.S. Tolle Lichteffekte.“

Frauentheater

Die einzige Frauengruppe des TdJ, an der theaterpädagogischen Abteilung des Staatstheaters Braunschweig entstanden, hatte sich ins Mädchenpensionats -Rollenfach geflüchtet, weil „es schwer ist, einen Rahmen zu finden, wo nur Mädchen zusammen sind“ und man in der Durchschnittsgruppe (8 Mädchen, 1 Junge) immer auf den einen Jungen Rücksicht nehmen muß. Die Publikumsfrage, ob sie mit ihrem nicht (klischeefreien) Stück an die Tradition von Hanni und Nanni anknüpfen wollten, wurde allerdings empört abgetan. Der Ausschluß des Mannes provozierte offenbar viel unterdrückte Aggression: Auf der allen zugänglichen Wandzeitung werden die „Karamel„-Frauen neben viel positivem Feedback als „Huren“ beschimpft.

Ganz unbeirrt von solcherlei Feinheiten zeigte sich die DDR -Gastgruppe „Reißverschluß“ des Jugendklubs „International“. Nachdem sie eine phänomenale Bearbeitung von Marivauxs Streit der Geschlechter hingelegt hatte, in der ein wunderbar verwirrter Sechzehnjähriger zum ersten Mal im Leben einer Frau begegnet und die eingeübte Konversation abspult: „Das Vergnügen, Sie zu sehen, hat mir die Sprache verschlagen“, verschlug es ihr selbst die Sprache. Denn in der anschließenden Diskussion über die empörte Frage, „warum die Frauen so wenig tierisch sind“, warum sie im Gegensatz zu den Männer-Rollen als „eitle, gekränkte, eifersüchtige“ Personen festgeschrieben werden, wußte man sich kaum zu helfen, zog Marivaux als Kronzeugen heran, die doch auch gezeigte Lächerlichkeit der Männerrollen nebst ihrer Beziehungsunfähigkeit und zuletzt die deutschdemokratischen Demokratievorstellungen: „Ich glaube, die ganze Geschichte ist wahnsinnig subjektiv. Ich toleriere Ihre Meinung und kann doch wohl auch erwarten, daß Sie meine Meinung tolerieren.“

Hatten die das Stück gespielt? Wußten sie nicht mehr, warum sie den vier Versuchskaninchen, die getrennt voneinander erzogen worden waren und zur Klärung der Frage, ob die Frau oder der Mann von Natur aus treulos ist, sechzehn Jahre später aufeinander losgelassen werden, warum sie ihnen einen militärischen Erzieher vorangestellt hatten, der Männer und Frauen verschiedene Codes, den einen Drill, den andern einen Spiegel vorhält? Der Streit der Geschlechter ist am Ende obsolet gegenüber den Verwertungsstrategien der Gesellschaft: andere Männer, andere Frauen, treu dem System ergeben, entscheiden.

Die Stärke des Streits liegt im Spiel selbst: der Dialog wird vom Körperausdruck dominiert. Das Erwachen und Vorsichtig-hinter-der-Wand-Hervortasten, das Erstaunen über „noch eine andere Welt“, über das Gegenüber, Angst und Rückfall ins tierische Sich-Kratzen, die Euphorie kulminiert in einem einfachen Satz: „Was für Länder, was für Menschen!“ Die Biologie der Maueröffnung.

Pädagogenglück

Den Spielleiter möchte man danach gern vergessen. Hatte er, Joachim Stargard, doch Peter Steins Fernsehaufzeichnung vor Augen und sich danach seine SchauspielerInnen ausgeguckt. Monatelang mußten wegen immerwährender Ausreis(s)e Rollen neu besetzt werden: „Da hatten wir keine Frau zur Verfügung. Unsere Eglee, die hab‘ ich in der Gastronomie entdeckt, bei der Angebotsmesse dachte ich, die sieht ja aus wie 'ne Eglee. Und unsern Mireau, den hab‘ ich entdeckt in der Schlange vorm Schauspielhaus.“

Überhaupt: die Pädagogen. Schminken sich wie zur Clownerei, während die Kinder mit würdigem Ernst ins Theater gehen. Manche können nicht mehr „ich“ sagen, wie die Spielleiterin der Theater-AG der Sonderschule für geistig Behinderte aus Mettmann, die anläßlich der Workshops versicherte: „Danach fühlten wir uns so, daß wir uns auch wirklich zeigen konnten.“ Ihre Produktion Der Frager, ein einfaches, aber formal anspruchsvolles Spiel ums Anweisungen geben und Anweisungen hinterfragen, war denn auch gleich an Bert Brecht angelehnt - weil das Amateur-Theatercamp, anläßlich dessen das Stück einstudiert wurde, unter diesem hohen Thema stand. Mitspieler Karl-Heinz, der „schon mal in der Vorgruppe von Bläck Föss gespielt hat (?), brachte den Anlaß auf den Punkt: „90 Jahre Bert Brecht, 400 Jahre Nordrhein -Westfalen.“

Trotzdem ist Der Frager ein Stück der Gruppe. Einzelne Szenen, hinter einer Leinwand als Schattenriß gespielt, sind der Arbeitswelt auf dem Benninghof, wo die SpielerInnen leben, entnommen. Die auf eine Kassette gesprochenen Anweisungen eines übermächtigen „Präfektors“ sind selbstausgedacht: „Seid nett zueinander! Traue keinem!“, die mit Leuchtfarbe bemalten Kostüme im Schwarzen Theater sind aus Mülltüten ausgeschnitten. Das Sich-ohne-Maske-Zeigen -Können scheint nicht nur ein Problem der Theaterpädagogin zu sein, aber (fast) alle glauben jetzt, es beim nächsten Mal zu schaffen. Einer spielt sogar schon seit acht Jahren Theater und erzählt von einem früheren Schattenspiel Nur ein Traum: „Der Peter hat den Wunsch gehabt, Autofahrer zu sein und mal so richtig zu brettern, dann war da ein Ehepaar, das wollte auf eine Insel, nur ein Mensch, das ist der Radfahrer, der wird in kein‘ Traum reingezogen, das ganze Stück über, und der Radfahrer, der war ich.“

Armes Theater

Solcherlei Versatzstücke aus Traumreisen der „andern Welt“, der Erwachsenen- und „Normalen„-Welt werden zum Ausgangspunkt für die eigene Geschichte. Als die Kinder der Crumstätter Grundschule zum Thema „Liebe“ assoziieren sollten, fielen ihnen ein: Schwimmbad, Disco (fast niemand war schon mal in einer), streiten, zusammen essen (Spaghetti). Daß man auch eine literarische Vorlage mit persönlicher Geschichte neu auffallen kann, zeigte die Spandauer Jugendtheaterwerkstatt mit Warten auf Godot. Vier Paare, viermal Wladimir und Estragon, warten auf Godot: zwei ungleiche Schwestern, zwei gemeinsam altgewordene Musiker, ein Ferienpärchen in Bermudas und Bundfalte, zwei Müßiggänger, der eine mit Atem-, der andere mit Erstickungsübungen beschäftigt. Mit tiefem Ernst geben sich die Paare dem Nichts hin, sprechen geradezu abfällig von ihrer Sehnsucht: „Heißt er Godot? - Ich glaube. - So, so“, spotten: „Godot ist auf dem Klo.“ Jeder trägt seine Vorgeschichte mit sich herum, das Warten selbst wird zur Lebens- und Theateraufgabe. „Der Godot war unsere Alternative zum 'Sommernachtstraum‘, mit dem wir nicht weiterkamen. Während der Zeit taten wir soviel nichts, daß es genau die Kerbe war, wo wir reinhauen mußten.“ Mehr könnte auch Beckett nicht erwarten.

Dorothee Hackenberg