Wissenschafts-TÜV für die DDR-Forschung?

Gutachter sollen das Niveau der Institute abklopfen und die Spreu vom Weizen trennen / Jeder dritte Forscher könnte seinen Arbeitsplatz verlieren / Die Akademie fürchtet um ihre Existenz und sucht eine neue Identität / Der neue Direktor macht in Optimismus  ■  Von Bärbel Petersen

Berlin (taz) - Die DDR-Wissenschaft steckt in der Krise. Existenzangst und Perspektivlosigkeit kennzeichnen den Alltag unter den Mitarbeitern wissenschaftlicher Einrichtungen, die Forscher ringen um ihren Stand und um den Erhalt der DDR-Wissenschaft. Die Zukunftsperspektiven wurden vergangene Woche von Akademie-Wissenschaftlern in Ost-Berlin diskutiert.

Bis zur Wende dirigierte die allmächtige SED den Wissenschaftsbetrieb der DDR, jetzt steht die deutsch -deutsche Wissenschaftsunion vor der Tür. Die Gefahr, dabei verschluckt zu werden, ist durchaus begründet. Aber für Charles Melis gibt es keinen Grund, „die Niederlage in eine Niederwerfung zu verwandeln“. Der Wissenschaftstheoretiker der Akademie der Wissenschaften versuchte seinen Zuhörern Optimismus einzuhauchen. Die Identitätskrise vieler Wissenschaftler sei schwerwiegender als der allgemein katastrophale Zustand der technischen Einrichtungen in der Forschung. Das mangelnde Selbstwertgefühl sei das schlimmste Erbe der vergangenen vier Jahrzehnte.

Der Selbstwertverlust war die logische Konsequenz aus den alten Verhältnissen: Die DDR-Wissenschaft wurde nie als eigenständige Disziplin verstanden, trotz aller anderslautenden Parolen von Partei und Regierung. Sie war nie etwas anderes als Anhängsel und wissenschaftliche Spielwiese der SED. Das sieht auch Ernst-Hinrich Weber so, Vorsitzender des Volkskammerausschusses für Wissenschaft und Technologie. Er plädiert für eine neue „selbständige Existenz“ der Wissenschaft, die aber gleichwohl finanziert werden müsse. Genau an diesem Punkt setzte Melis seine Kritik an. Bisher sei die DDR-Wissenschaft ein mit Hungerlöhnen gehaltener Selbstbedienungsladen gewesen, der „jeden Wunsch von Partei, Wirtschaft und Staat zu erfüllen hatte“. Jetzt müsse sie in ihrer neuen Rolle selbst die Angebote formulieren, die Staat und Wirtschaft von der Notwendigkeit ihrer Finanzierung überzeugen. In diesem Jahr wird die DDR-Regierung zwar noch Gelder rüberreichen, aber schon deutlich weniger als gewohnt. Weber sieht darin immerhin einen heilsamen erzieherischen Effekt. Er belehrte seine Zuhörer, sie sollten weniger übers Geld und mehr über die Menschen reden. „Wir müssen vom Menschen ausgehen“, appellierte er wolkig-blumig an die verduzten Versammelten. Weber ist auf der Suche nach dem „neuen Wissenschaftler“. Für ihn habe sich nach der Wende nur die Basis verändert. Je höher man steige, um so mehr hätten sich auch im Wissenschaftsbetrieb die alten Strukturen gehalten.

Das brachte den Philosophen Hermann Klenner auf die Palme. Er, der zu SED-Zeiten selbst in Ungnade gefallen war, warf Weber einen Affront gegen die Akademie vor. Weber stelle das vom Runden Tisch der Akademie durchgesetzte Revirement in Frage, obwohl er selbst dessen Vorsitzender ist. Klenner verlangte mehr politische Toleranz. Nicht die politische Haltung, sondern die wissenschaftliche Leistung müsse künftig endlich im Mittelpunkt stehen.

Bisher war die DDR-Wissenschaft stark östlich ausgerichtet, und diese Einseitigkeit bekommt sie jetzt zu spüren. Das in der Diskussion mehrfach beklagte mangelnde Selbstwertgefühl liegt sicher auch im fehlenden Wettbewerb begründet. Die Reputation der DDR-Wissenschaftler beruhte bislang nahezu ausschließlich auf einem hausgemachten Bewertungssystem. Was im DDR-Maßstab als phänomenale Errungenschaft galt, brachte das Prädikat „Spitzenleistung“. Jetzt sollen dieselben Forscher plötzlich international konkurrieren.

Die Akademie ist mit 23.000 Angestellten die größte Wissenschaftseinrichtung in der DDR. Nach bisherigen Szenarien muß wohl jeder dritte Mitarbeiter seinen Hut nehmen. „Auf diese Situation sind wir vorbereitet“, sagte der Molekularbiologe Tom Abraham Rapaport. Um die Spreu vom Weizen zu trennen, forderte er ein Gutachtersystem in allen Instituten, das den Mitarbeitern sozusagen ihr geistiges Niveau bescheinigen soll. Ein Wissenschafts-TÜV als Schiedsgericht für 20.000 Forscher? Der bundesdeutsche Wissenschaftsrat hat dabei seine Hilfe angeboten! Daß die Angestellten davor Angst haben, leuchtet ein. Aber, so Rapaport frohgemut, man solle jedem Mitarbeiter klarmachen, daß das auch eine Chance sei, sich selber einzuschätzen.

In der Vergangenheit war die Akademie mit ihren mehr als 50 Instituten auf dem Gebiet der Forschung dominierend. Partei und Wirtschaft vergaben die meisten Aufträge an diesen riesigen wissenschaftlichen Apparat mit Monopolstellung. Das wird sich bald ändern. Und wie in der Bundesrepublik werden die Hochschulen künftig stärker in die Forschung miteinbezogen. Darauf wollen sich die Wissenschaftler der Akademie einstellen. Aber was wird aus den vielen Historikern, Philosophen und anderen Geisteswissenschaftlern?

Einige Institute erwägen, aus der Akademie auszusteigen, um mit westdeutschen Partnern zu fusionieren. Während Melis vor einer Kahlschlags- oder Ausverkaufsmentalität warnt, hat Rapaport nichts Grundsätzliches gegen diese Partnerschaft einzuwenden. Aber auch er warnt davor, sich nicht wieder in neue Abhängigkeiten zu begeben. Klenner assistiert: „Ich möchte nicht einer politischen Diktatur entronnen sein, um unter die des Kapitals zu kommen.“ In einem waren sich abschließend alle einig: Die Akademie der Wissenschaften hat eine Zukunft, sie muß eine Zukunft haben.

Einer, der sich „mit aller Kraft vor die Akademie stellen“ will, ist ihr neuer Präsident, Gerhard Klinkmann. Eigentlich war er nur als Zuhörer gekommen, aber dann hielt es ihn doch nicht länger auf seinem Platz. Für ihn steckt die lange nicht reformierbare Akademie „schon lange im Reformprozeß“. Sie sollte nicht länger nur auf die bundesdeutschen Wissenschaften starren, denn „wir sind auf dem Weg zu einer europäischen Wissenschaft“. Klinkmann glaubt, daß das „ausgezeichnete und hervorragende Potential der Akademie, den europäischen Wissenschaften einen gewaltigen Schub geben könnte“. Ein wahrhaft optimistischer Schlußpunkt.