Lohnverhandlungen im Blindflug

Der Tarifpoker in der DDR beginnt  ■ K O M M E N T A R

Die Lohnverhandlungen, die jetzt in der DDR begonnen haben, suggerieren so etwas wie Normalität in einer ganz und gar unnormalen Situation. Auch in der DDR beginnt nun jenes Ritual von Forderung und Verweigerung, Verhandlung und Kompromiß, das im westlichen Teil Deutschlands seit Jahrzehnten zum politischen Alltag gehört und über das den abhängig Beschäftigten die Teilhabe am erarbeiteten gesellschaftlichen Reichtum gesichert wird. Aber durch die Ähnlichkeiten der politischen Formen, durch die scheinbare Gewöhnlichkeit der Prozeduren wird das Ungewöhnliche um so deutlicher hervorgehoben: Tarifverhandlungen in der Zeitenwende, wo das Alte noch nicht verschwunden und das Neue noch nicht richtig da ist.

Abgesehen davon, daß niemand heute schon sagen kann, wie groß nach dem zweiten Juli der Kuchen sein wird, der jetzt in den Tarifverhandlungen verteilt werden soll - darüber hinaus fehlen in der DDR bis heute die institutionellen Voraussetzungen für den Tarifpoker. Die Gewerkschaften der DDR sind kaum handlungsfähig und werfen sich in die Arme der Westgewerkschaften. Die Arbeitgeberverbände in der DDR haben sich kaum formiert und signalisieren vor allem eines: Unsicherheit über die Leistungsfähigkeit der Betriebe. Unsicherheit aber auch über die Rolle, die sie in der zukünftigen sozialen Marktwirtschaft als Agentur des sich verwertenden Kapitals spielen müssen. Kein Wunder also, daß beide Seiten sich stark auf die aus dem Westen geborgten Strukturen stützen, um überhaupt verhandlungsfähig zu sein.

Wer jetzt in der DDR über Lohnerhöhungen verhandelt, weiß nicht, wovon er redet. Weder die Gewerkschaften noch die Unternehmerverbände können genau abschätzen, was die Folgen ihrer Vereinbarungen sein werden, wie auch immer diese aussehen mögen. Sicher ist nur, daß viele DDR-Betriebe schon beim jetzigen Lohnniveau nicht konkurrenzfähig sind. Um wieviel weniger werden sie es sein, wenn die Löhne um 50 oder mehr Prozent erhöht werden? Lohnverhandlungen als politischer und sozialer Blindflug.

Natürlich ist den abhängig Beschäftigten in der DDR ein schneller Anstieg ihres Lebensstandards zu gönnen. Aber es wäre politisch ehrlicher, bei den vorliegenden Lohnforderungen dazuzusagen, daß es den Wohlstand nicht umsonst geben wird: Die Gewerkschaften haben in großen Bereichen der DDR-Wirtschaft die Auswahl zwischen höheren Löhnen und höherer Arbeitslosigkeit.

Martin Kempe