„Die Herren essen lieber Zigeunerschnitzel“

500 Roma und Sinti blockieren auf unbestimmte Zeit die deutsch-niederländische Grenze bei Aachen / Rechtssicherheit durch uneingeschränktes Bleiberecht gefordert / Schaulustige mit Tränen in und Videorecordern vor den Augen  ■  Aus Aachen Bernd Müllender

Im Fenster des Zollhäuschens die üblichen Terroristen -Suchplakate. Darunter Aldi-Tüten, Fanta-Flaschen, Plastikbecher und erste kleine Müllhaufen. Hier liegen, eng nebeneinander, Männer und Frauen, und besonders viele Kinder, die sich auf eine kühle Nacht vorbereiten. Keine Matratzen, keine Schlafsäcke, eingehüllt nur in Decken mit der Aufschrift „Bund“ - Sozialware karitativer Menschlichkeit. Beide Fahrbahnen sind vierspurig von ihren meist rostigen Autos blockiert. Drumherum gut 30 kleine Zelte und Transparente: „Wir fordern Bleiberecht“ - und überall Grenzbeamte, Polizei, einige Dutzend Schaulustige. Am Nachmittag hatte es heftig geschauert, Mütter und Kinder waren in blaue Müllsäcke gekrochen, unter die wenigen regengeschützten Vordächer. Darüber hängt ein Schild: „Abstellen von Fahrrädern nicht gestattet.“

„Hier an der Grenze“, sagt Rudko Kawczynski, „wollen wir das Problem auf den Punkt bringen.“ Kawczynski ist Vorsitzender der „Rom & Cinti Union“ in Hamburg und Sprecher einer 500köpfigen Gruppe, die seit Pfingstmontag dafür sorgt, daß die deutsch-niederländische Grenze in Aachen -Vaalserquartier für allen Verkehr, anfangs sogar stundenlang auch für FußgängerInnen, dicht ist. Die Roma und Sinti, abgedrängt ans äußerste (West-)Ende der Republik, taten so, als wollten sie ins Nachbarland. Sie wußten: Die Niederländer lassen sie nicht rein, weil sie keine Papiere haben. Die Deutschen wollen sie loswerden, weil sie keine Papiere haben. Viele sind zudem unmittelbar von der Ausweisung bedroht. Nur: Ausweisung wohin?

Als „Heimatlose“ fordern sie hier und jetzt ein Bleiberecht in der BRD. Endgültig. Rechtssicherheit ohne zeitliche Beschränkung. Keine weiteren Almosen. Kein weiteres Kompetenzgerangel zwischen Bundes- und Länderbehörden. Um nicht mehr von Stadt zu Stadt hin- und hergeschoben zu werden. „Es gibt jetzt keine Kompromisse mehr“, sagt Kawczynski, „Schluß und Aus.“ Die Roma und Sinti fordern, daß ein Gesprächspartner der Bundesregierung zur Grenze komme. „Nur Druck wirkt jetzt noch“, sagt Kawczynski, „wir trauen den Politikern nicht für zwei Pfennig.“ So kann die Belagerung womöglich noch einige Tage dauern.

Seit Ende des 19. Jahrhunderts vagabundieren die im Volksmund „Zigeuner“ genannten durch Europa. Bis dahin waren viele Leibeigene in Rumänien gewesen. Danach wurden sie heimatlos, staatenlos, und blieben ohne gültige Ausweise und Reisedokumente. In anderen europäischen Staaten wurden sie als Flüchtlinge gemäß der Genfer Menschenrechtskonvention anerkannt. Seit fünf Wochen nun befinden sich 500 der deutschen Roma und Sinti auf dem „Bettelmarsch“ und wollen so als ethnische Minderheit endgültig ein bundesweites, verbindliches Bleiberecht, Personalausweise eingeschlossen. In Bremen waren sie gestartet, zum Großteil zu Fuß, in Bonn brachten Gespräche keinen Erfolg. Auch der weitere Weg nach Westen war mit zugigen Turnhallen und Notbaracken gepflastert.

Unterwegs sangen sie „Ich bin lange Wege gegangen“, das gleiche Lied wie vor 50 Jahren auf dem Weg in die Konzentrationslager, wo eine halbe Million von ihnen ermordet wurden. In Aachen bekamen sie Pfingstsamstag zwei Garagen einer alten Feuerwache zugewiesen, ein Quadratmeter Schlafplatz pro Person. Ein Platzregen setzte das Gebäude zwischenzeitlich unter Wasser. „Da hätte man veterinärrechtlich nicht mal ein Schwein unterbringen dürfen“, meinte einer wütend.

Roma-Sprecher Rudno Kawczynski versteht es, mit den Medien umzugehen. Zitierfähige Sätze kommen an der Grenzstation reichlich aus seinem Mund, manchmal an der Grenze zum Erträglichen: „Man soll uns totschlagen oder Rechtssicherheit geben.“ Ein niederländisches Fernsehteam bekommt zu hören: „Früher hat man uns totgeschlagen in Deutschland. Heute werden wir totgeschwiegen. Der Unterschied ist nur, daß Auschwitz geschlossen ist.“ Und über die Politiker sagt Rudno Kawczynski in zynischem Ton: „Die Herren essen lieber Zigeunerschnitzel und sehen sich Carmen an.“

Der Aachener SPD-Europa-Abgeordnete Dieter Schinzel bekommt am Schlagbaum den schönen Satz zu hören: „Wir Roma und Sinti sind doch die wahren Europäer, wir leben in allen Ländern.“ Wenn auch gezwungenermaßen. Schinzel hatte am Montag abend eine, wie er meinte, erfreuliche Zwischenlösung im Gepäck. Das Aachener Ausländeramt sei bereit, die Vertriebenen für drei Monate zu dulden. Schinzel wollte gar nicht verstehen, daß Kawczynski diesen Kompromiß rigoros ablehnte: Drei Monate wieder Turnhallen, Feuerwachen - und was kommt danach? Nein. Die Bundesregierung soll ein für allemal Klarheit schaffen.

Dem Reporter der 'Bild'-Zeitung erklärt Kawczynski: „Wenn morgen Eure Überschrift heißt: 'Helmut Kohl vertreibt arme Zigeuner‘, dann haben wir übermorgen das Bleiberecht.“ Der Kollege ließ sich nicht beeindrucken und schrieb gestern: „Bettel-Marschierer blockieren die Grenze“, obwohl eigentlich die Zollbeamten sie zuerst blockierten. Die Schließung der Grenze war am ersten Tag von den BürgerInnen noch mit Gelassenheit aufgenommen worden. Eine Lokalzeitung beobachtete - das Elend stillender Mütter unter regennassen Müllsäcken vor Augen - Passanten, die mit den Tränen kämpften. Später dann murrte der erste: „Wenn das alle so machen würden, einfach hier mit Gewalt ihr Recht erzwingen...“

Zwischen dem holländischen Grenzort Vaals (jede/r vierte/r hier ist Deutsche/r) und Aachen pendeln jeden Tag viele tausend Menschen. Sie müssen jetzt statt fünf fast dreißig Kilometer über die Autobahn fahren. Auf Dauer birgt dies reichlich Zündstoff. Schon gestern: Da konnten die Deutschen nicht auf den beliebten, weil billigen Wochenmarkt in Vaals. Die Heimat- und Rechtlosen skandierten mit erhobener Faust „Bleiberecht, Bleiberecht“. Schon gestern Mittag: erster Unmut der Kaufwilligen („Was soll der Quatsch hier?“), weil sie ihren Spargel jetzt für den doppelten Preis zu Hause kaufen müssen. Ein Grenzbeamter spricht von „viel Ärger“ seit gestern morgen, „etwa fifty-fifty gegen uns und gegen die Zigeuner“. Derweil spielen deren Jüngsten mit Nachbarskindern friedlich Fußball und die ersten video -filmenden Rentner laufen die Reihen der frustrierten Roma und Sinti schamlos mit ihren Camcordern ab, auf der Suche nach schönen, typischen Bildern fürs Heimkino. Diese armen Zigeunerbarone für Deutschland privat.