OHNE KIRSCHBLÜTE

■ Tagami Masakatsus „Metamorphosen“ in der Galerie am Holtzendorffplatz

Rechteck, Vieleck, Kreis, Oval, Striche, Kratzspuren, Strukturen, Netzwerk, Gestalten, Zeichen, Pinselstriche Tupfer, Bögen, Kritzelei, Landschaft? Kontrastreich hingefedert die Tusche: vor dem Nebelgrau des Hintergrunds, umrissen mit dem sparsamen Strich des Karikaturisten ein Kopf, ein abstraktes, mehrdeutiges Gebilde, ein Bild, ein Abbild? Abbild eines Fragments?

Die filigrane Abstraktion auf den Bildern des japanischen Künstlers Tagami Masakatsu überrascht, wenn man der phantastischen Prozession der Gestalten folgt, die auf dem Plakat neben dem Eingang zum Besuch der Ausstellung Metamorphosen einlädt: Groteske Figuren und Fabelwesen schieben einen Karren mit undefinierbarer Ladung, schleppen ebenso undefinierbare Last, gefolgt von der Hülle eines Vierbeiners, geführt von einem stämmigen Männchen. Schließlich eine Art Kobold vor den Stufen eines Gebildes, dessen einzige Funktion es zu sein scheint, die Schattensilhouette eines Menschen auf dem Buckel zu tragen, ohne jedoch über den eigenen Schatten herauszukommen, der wiederum mit einem im Boden steckenden Fisch, der auch ein Schattendasein führt, vertäut ist. Das Motiv ist einem Bild entnommen, auf dem dieser absonderliche Prozessionszug der Lagerstatt eines Riesen zustrebt, der angekettet daliegt, von geschäftigen Winzlingen bekrabbelt und bearbeitet, die aus seinem aufgeschnittenen Bauch die Därme heraustragen.

Das europäische Auge assoziiert auf den ersten Blick Märchenillustration, das Motiv vom angeketteten Riesen läßt an Gullivers Reisen denken, die grotesken, phantastischen Kompositionen, das lebendige Getümmel weckt Assoziationen zu Hieronymus Bosch und Pieter Brueghel. Der Gegensatz zu den sparsamen abstrakten Strichen, den etwas nervös hingeworfenen Tuschpinselzuckungen zu dieser Detailfreude, dieser phantastischen reichen Figurenwelt irritiert. So leicht und hell die gegenstandslose Welt Tagamis wirkt, so erscheint in der Verdichtung der abstrakten Strukturen zum labyrinthischen Netzwerk der Weg seiner Metamorphose wie eine Reise in die Welt des Unbewußten, des Märchenhaften. Der Spiegel der Ameratsu scheint das Licht des Buddha in die Welt der achthundert mal zehntausend Götter und Dämonen zu werfen, eine verrückte Welt voller Skurrilität, Leidenschaft und grotesker Geschäftigkeiten. Bilder, die in der Tradition japanischer Gespenstergeschichten Ängste, Träume und Alpträume schildern, Leben als grandioser Karneval. Der Blickwinkel auf die Welt bedarf oftmals nur minimaler Drehung, die konkrete Situation nur veränderter Einstellung der Sehschärfe, und das eben noch Beängstigende wird lächerlich, das Feierliche absurd.

Aus dem Pandämonium Masakatsu Tagamis führt der Weg wieder hinaus in die Stille: Da ist ein Quadrat, eine ruhige Fläche voller winziger Striche oder Kratzer auf der Radierplatte. Der Kratzer ist nur noch ein winziger Kratzer, ein winziger Strich unter unendlich vielen, und steht doch für die achthundert mal zehntausend Götter und Dämonen oder die Fasern eines zerschnipselten Netzes...?

Thod

Bis 16. Juni in der Galerie am Holtzendorffplatz e.V., Heilbronner Straße 11, 1/31, Dienstag bis Freitag 17.30 bis 20 Uhr, Samstag von 11 bis 13 Uhr.