„Sie haben uns wie Verbrecher beschrieben“

■ Türkische Kids sind stinksauer auf die Springerblätter, denen sie zum Thema „Jugendgangs“ arglos Interviews gaben

Kreuzberg. „Wie Fliegenschwärme“ fallen zur Zeit Presseleute in Kreuzberger Jugendtreffs ein, um mit ausländischen Jugendlichen, die in Gangs organisiert sind, Interviews zu führen. Mit großer Offenheit, so eine Sozialarbeiterin der „Naunynritze“, berichteten die Jugendlichen von ihren Gruppenaktivitäten. Das taten auch Melek und ihre Freundinnen von der Gruppe „36 girls“ und die Jungs von „36 boys“. Die JournalistInnen von 'Bild am Sonntag‘ hatten ihnen versichert, so Melek, daß sie „klarer unser Gesicht darstellen und zeigen wollten, daß wir nicht so gefährlich sind“. Das Ergebnis der Springer-Recherchen ließ dann aber genau auf gegenteilige Absichten schließen und muß ganze Bevölkerungsgruppen in Panik versetzen. Schüler wagen sich angeblich nicht mehr auf die Straße, Lehrer werden von Schülern verprügelt, „bescheuert angezogene Frauen“ werden „alle gemacht“. Ihnen allen „lauern“ laut 'Bild‘ und 'BZ‘ ausländische „Banden“ in dunklen Gassen und hinter Holzbiegen auf. Passend dazu forderten Politiker auch sofort härtere Abschiebungspraktiken.

„Sie haben uns beschrieben wie Verbrecher, die unschuldige Frauen zusammenschlagen“, erzählt Melek. Sie verlangt mit Hilfe eines Anwaltes nun eine Richtigstellung der „ausgedachten Geschichten“ - und die Fotonegative. Die Fotos mit der Überschrift „Ein Schüler wird plattgemacht“ seien auf Bitten der Fotojournalisten entstanden, denen die Jugendlichen „aus Spaß“ eine Rauferei vorführen sollten.

Der türkische Elternverein und ein Projekt des Oberlin -Seminars sehen die Berichterstattung als „Kampagne gegen ausländische Mitbürger und Flüchtlinge“, die dazu diene, Vorurteile zu verfestigen und jugendliche Immigranten zu kriminalisieren. Die Kids berichten immer noch offen von ihren Aktivitäten. „Wir sind eigentlich ganz friedlich und wir wollen, daß die Leute von uns nicht so Schlechtes denken“, erzählt ein 18jähriger Jugendlicher von den „36 boys“ der taz. Es habe Fälle von Schutzgelderpressung und Kleiderdiebstahl gegeben, zur Zeit allerdings versuchten die Großen die ebenfalls in Gruppen organisierten Jüngeren zu kontrollieren. Mit den „Black Panthers“ aus dem Wedding haben sich die Kreuzberger inzwischen versöhnt. Zusammen, so ihre Einsicht, können sie sich gegen die Provokationen von Neonazis besser zur Wehr setzen. Das ändert jedoch nichts an ihrer Angst und dem Gefühl der Diskriminierung angesichts der Verabschiedung des neuen Ausländergesetzes. Melek beklagt, daß sobald türkische Jugendliche in einer Gruppe auf der Straße erschienen, sofort die Polizei käme. Würden türkische Mädchen von Neonazis geschlagen, kümmere sich aber niemand darum.

Die Jugendlichen, in der Springer-Presse als „Herren der Straße“ bezeichnet, geben zu, gern auf der Straße zu sein. Nicht zuletzt liegt das auch an fehlenden Orten, um andersgeartete Geselligkeiten zu pflegen. Sie wünschen sich mehr Diskotheken und Räume für selbstorganisierte Feten als „Ablenkung gegen Langeweile“. Die von der Arbeitsgruppe „Jugendgangs“ in der Naunynritze erarbeitete Stellungnahme unterstützt die Forderungen der Jugendlichen. Gangbildung ist nach ihrer Auffassung als „Hilferuf oder Umsetzung des Bedürfnisses nach Anerkennung, Lebensperspektiven und Wunsch nach Gleichberechtigung“ zu verstehen.

Sigrid Bellack