Die Wiege stand in Leipzig

■ Die Geschichte der organisierten Mieterbewegung begann bereits 1882 in Sachsen / Von der Mieter-Versicherung zur politischen Interessenvertretung

Professor Rudolf Sohm hatte Großes vor. Als sich am 20. Oktober 1900 25 Mietervereine zum Zwecke ihres Zusammenschlusses in Leipzig trafen, forderte der Jurist: „Die Mietervereine müssen eine Macht werden in unserem deutschen Vaterlande.“ Dabei räumte Sohm selbstkritisch zu dem von ihm mitbegründeten Bürgerlichen Gesetzbuch ein: „Das von Reich und Rechts wegen geltende Mietrecht besteht tatsächlich nur auf dem Papier. Das Mietrecht ist verschwunden hinter den Bestimmungen des von den Hausbesitzervereinigungen entworfenen Vertrages.“ Erleuchtung erwartete man vom „Verband Deutscher Mietervereine“, der „ein Bindeglied zwischen den einzelnen Vereinen“ sein und „ihnen mit Rath und That zur Seite stehen“ sollte. Doch mit den vier Pfennigen, die die Mitglieder jährlich zu entrichten hatten, war nicht viel auszurichten gegen die wohlorganisierten Interessenvertretungen der Hausbesitzer. Deren Gebahren sorgte selbst in den eigenen Reihen für Ablehnung. „Empörend ist, daß jemand seine Mitmenschen wegen eines oft ganz unvermeidlichen, winzigen Umstandes mit Weib und Kind auf die Straße werfen darf“, klagte ein Hauswirt über seinesgleichen.

Trotz des finanziellen Engpasses wuchs die Organisation und mit ihr das politische Gewicht. Nur zehn Jahre nach der Gründung zählte der mittlerweile in Bund Deutscher Mietervereine umbenannte Verband bereits 20.000 Mitglieder, und 1922 (Mitgliederstand: schon über 550.000 Mieter) erreichte er den ersten Durchbruch auf parlamentarischer Ebene. Da wurde das Reichsmietengesetz durchgebracht, ein Jahr später das erste Mieterschutzgesetz. Der Verband erlangte Einfluß - und der zeigte sich sogar bei Wahlen. Nach der Vereinigung mit einem Berliner Konkurrenzverband (aus Bund und Reichsbund wurde ein Dachverband) heimsten Mieterlisten bei den Kommunalwahlen im Jahre 1924 beachtliche Erfolge ein.

Doch dann beging die Massenorganisation Fehler. Unter der Leitung des Sozialdemokraten Fritz Dzieyk gründete der Reichsbund eine gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft und in Zusammenarbeit mit einem privaten Berliner Geldinstitut eine Deutsche Mieterbank. Dubiose Geschäfte der Verbandsleitung führten bereits 1928 zum Ende der Wohnungsbaugesellschaft und zum Bankrott der Mieterbank. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten zeigten sich Unterschiede zwischen Mieterbund und Reichsbund. Während der Bund sich sehr schnell gleichschalten ließ, rief der Reichsbund noch im März 1933 zum Widerstand gegen das Hitlerregime auf. Schon im nächsten Jahr wurde diese Organisation aufgelöst. Engültig zerschlagen wurde die Mieterbewegung 1944.

Nach dem Krieg wurde zwar rasch mit einer Neugründung der Mieterorganisation begonnen, doch über das frühere politische Gewicht verfügte sie nicht. So war die 1963 von CDU-Bauminister Paul Lücke durchgesetzte schrittweise Überführung auch der Altbauwohnungen in die freie Marktwirtschaft nicht zu verhindern. Anfang der 80er Jahre gründeten sich, entstanden aus der Hausbesetzerbewegung, vor allem in den westdeutschen Großstädten Vereine, die nicht nur Rechtsberatung, sondern auch die Vertretung von Mieterinitiativen sowie die Artikulation wohnungspolitischer Forderungen zum Ziel hatten - „Mieter helfen Mietern“, heißt etwa der Hamburger Verband. Angesichts der Situation auf dem Wohnungsmarkt und vor dem Hintergrund halbherziger Baupolitik auch SPD-regierter Bundesländer gingen der 100jährige Mieterverein zu Hamburg und der erst zehn Jahre währende alternative Mieterverein 1990 gemeinsam auf die Straße. Die von Professor Sohm erträumte „Macht“, nun wieder im gesamten Deutschland, ist jedoch noch nicht in Sicht.

Axel Kintzinger