piwik no script img

It's all Hannover now, Leipzig!

Leipzigs Stadtverordnete wählten den Hannoverraner Hinrich Lehmann-Grube (SPD) zum neuen Oberbürgermeister Wiederherstellung des kommunalen Eigentums bei der Volkskammer beantragt / Leipzig will Mitgliedschaft im Städtetag  ■  Aus Leipzig Stefan Schwarz

„Wir wissen nicht, was wir sollen“, sang der Thomanerchor zur Pause dieser zweiten und entscheidenden Stadtverordnetenversammlung am Mittwoch in Leipzigs Neuem Rathaus.

Das war gut beobachtet. Die neugewählten Abgeordneten, zusammengekommen, um die Hauptsatzung, die Geschäftsordnung zu beraten und dann den Oberbürgermeister zu küren, wirkten unkonzentriert, beim Einarbeiten der Änderungen ins Regelwerk gingen die Stimmkarten unmotiviert in die Höhe, Abstimmungen mußten wiederholt werden. Für Aufregung sorgte obendrein der jüngste DDR-Bürger im Haus und einzige OB -Kandidat Dr. Hinrich Lehmann-Grube (SPD) aus Hanover, der sogar vergaß, sich in die Anwesenheitsliste einzutragen und bis zu seiner „Entlarvung“ als Geisterstimme das Präsidium verunsicherte.

Nach anderthalb Stunden waren die Papiere durchgestimmt. Die vorläufige Hauptsatzung stattet den OB mit allerlei Macht aus. Ein entsprechend ermächtigtes Kollegialorgan, das gemeinsam mit dem OB alle Angelegenheiten entscheidet, wollte sich, „rein technisch gesehen“ (Lehmann-Grube), so schnell nicht einrichten lassen. Statt dessen vermittelt jetzt ein Hauptausschuß aus allen Fraktionen zwischen dem Stadtoberhaupt und der Versammlung. Ein Antrag der Grünen, die Sitzungen dieses Hauptausschusses öffentlich durchzuführen, wurde nach dem Einspruch Lehmann-Grubes abgeschmettert. Überhaupt sprang der designierte OB-Kandidat überraschend oft mit dem ganzen Gesicht seiner Fachkompetenz (jahrelang Stadtdirektor in Hannover) vor das Mikrofon und steuerte die schwankende Versammlung ins ruhige Fahrwasser des bürgerlichen Parlaments hinein. Allein bei der Entscheidung über die Einrichtung gesonderter Dezernate für Schule und Kultur mußte seine SPD eine Niederlage hinnehmen. Die Stimmen BFD, CDU und PDS (der rechte Block! Ein Zeichen in der Sitzordnung: es gibt kein Links von der SPD) verhinderten dieses Vorhaben. Eine Trennung der Funktionenlegung hätte Gerangel zwischen Bündnis 90 und SPD vermieden, nun muß der Kompromiß um einen Dezernenten gefunden werden.

Die Wahl des agilen Hannoveraners Lehmann-Grube, der des zähen Beamtenrechts wegen für die Leipziger Oberbürgermeisterei nur beurlaubt ist, und seines Stellvertreters Ahnert (CDU) ging ohne Tücken über die Bühne. Lehmann-Grube gab sich in seiner Antrittsrede als Oberbürgermeister verhalten optimistisch. - Angesichts der Ausgangslage war es dann auch nur der „gute Ruf“ der Stadt, der Hoffnung zuließ. Die Infrastruktur kollabiert, die Wirtschaft steht vor dem Währungsschock und die Stadtkassen sind leer. Wenigstens die Wiederherstellung des kommunalen Eigentums an Grund und Boden, wie es die Stadtverordnetenversammlung in einem dringlichen Antrag an die Volkskammer verlangte, könnte da den Finanzen wieder aufhelfen. Lehmann-Grube beschloß seinen vagen Ausblick auf die Perspektive der Stadt mit einer gesamtdeutschen Vision, die er Jens Reich entliehen hat: Ein föderales Deutschland des allseitigen Interessenausgleichs, das Schmelztiegel Europas und nicht Machtzentrum sein solle. Wachsendes kommunales Selbstbewußtsein demonstrierten die Abgeordneten beim Antrag auf Mitgliedschaft im Deutschen Städtetag, dem Lehmann-Grube einst diente und dem er sich auf der kommenden Tagung als Leipzigs Oberbürgermeister präsentieren will.

Daß Leipzig in einem Land Sachsen von Dresden aus regiert wird, stört den neuen OB nicht. „Wir können auch ohne das die größeren sein.“ Soviel Zuversicht zeigte der Mann aus der Messestadt Hannover beim Thema Leipziger Messe nicht. „Die Schutzglocke ist weggenommen“, und „Messestadt ist keine Selbstverständlichkeit. Der Wettbewerb ist groß.“ Sagte er, und versprach sich darum zu kümmern.

Kümmern wird er sich auch um Leipzigs Hausbesetzer. Der neue OB gab sich zerissen zwischen einer guten und einer schlechten Erfahrung aus seiner Hannoveraner Zeit, versicherte aber, wenn „ein gutes Konzept“ von den Besetzern vorgelegt werde, sei alles kein Problem. Den Schutz von Minderheiten durch ein besonderes Dezernat tat der Neu -Leipziger als altes „Obrigkeitsdenken“ ab, die Bürger müssen sich schon einmal selbst engagieren. Wohl an!

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen