Die Öffentlichkeit nicht den Rechten überlassen

■ In Sachen Ausländerpolitik kündigen die ImmigrantInnen in der SPD Protest an / Unverständnis für Zaudertaktik der Sozialdemokraten beim kommunalen Ausländerwahlrecht / Beratung möglicherweise doch noch vor der Sommerpause im Abgeordnetenhaus?

West-Berlin. Als Bilanz bleibt vorerst nur Resignation. „Der Vertrauensvorschuß“, sagt Merih Ünel, türkischer Sozialdemokrat und Mitglied des Fachausschusses Ausländerpolitik der SPD, „ist wohl zu lange gewährt worden.“ Die Liste der Enttäuschungen wird zunehmend länger und wiegt um so schwerer, als in diesem Bereich auch von den ImmigrantInnen in dieser Stadt hohe Erwartungen gesetzt worden sind.

Auf einen liberalen Ausländererlaß warten die über 250.000 ImmigrantInnen und Flüchtlinge in West-Berlin seit Regierungsantritt. Die Innenverwaltung zeigt sich nicht einmal mehr bereit, per Weisung an die Ausländerbehörde noch einige Verbesserungen für die hier lebenden ImmigrantInnen durchzusetzen, bevor am 1.1.1991 das Ausländergesetz und damit einschneidende aufenthaltsrechtliche Verschärfungen in Kraft treten (die taz berichtete). Begründung: Eine förmliche Weisung lohne sich nicht mehr, weil das Ausländergesetz bald in Kraft trete. Auch die laut Koalitionsvereinbarungen „unverzüglich“ vorzunehmende Einführung des kommunalen AusländerInnenwahlrechts läßt bis heute auf sich warten. Das werten auch die inzwischen selten gewordenen UnterstützerInnen von Rot-Grün als glatten Koalitionsbruch.

Der Unmut wächst unter den ImmigrantInnen angesichts eines spürbar eisigeren Windes auch in anderen Bereichen. Da werden zum Beispiel fremdsprachige Hörfunkprogramme auf unattraktive Frequenzen abgeschoben, an der TU soll angesichts des bevorstehenden Andrangs von DDR-Abiturienten die Quote von nichtdeutschen StudentInnen gesenkt werden. Nicht zuletzt bedienen sich SPD-Politiker wie Innensenator Pätzold in Sachen ImmigrantInnen und Flüchtlingen zunehmend einer Rhetorik, die an die Zeiten des CDU-Innensenators Lummer erinnert.

Längst rumort es nicht nur in der AL, sondern auch an der nichtdeutschen Basis der SPD. Türkische Sozialdemokraten, lange genug stilles Fußvolk und multikulturelles Aushängeschild, kündigen „unruhigere Zeiten“ an. Zutiefst enttäuscht seien seine Landsleute über Rot-Grün, sagt Ünel, wozu nicht zuletzt das Trauerspiel um das kommunale Ausländerwahlrecht beigetragen hat. Statt der SPD tummelten sich CDU und „Republikaner“ auf den Einkaufsstraßen, schauten zumindest dem deutsch fühlenden Teil des Volkes aufs Maul und sammelten Unterschriften gegen das AusländerInnenwahlrecht. In der SPD beschloß man, auf die Entscheidung des BVG in Karlsruhe zu warten. Anstatt selbst Fakten zu schaffen, sagt Ünel, „haben wir die Öfentlichkeit den Rechten überlassen“.

Für den Landesparteitag der SPD am 29. Juni kündigt er Protestaktionen türkischer Sozialdemokraten an. Eine Entscheidung in Sachen Wahlrecht ist dann möglicherweise schon gefallen. Am 21. Juni muß sich der Rechtsausschuß mit dem Thema befassen, nachdem es auf der letzten Sitzung vor zwei Tagen nicht mehr auf den Tisch kam. Sollte der Antrag auf Einführung des kommunalen AusländerInnenwahlrechts dann doch noch an das Abgeordnetenhaus zur Beratung überwiesen werden, müssen die 55 Mitglieder der SPD-Fraktion schweren Herzens ihr Gewissen befragen und abstimmen - ohne Absolution der Richter in Karlsruhe.

anb