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Reservat für Mitteleuropäer

■ Ein paar Anregungen für den Wien-Besuch von Hazel Rosenstrauch

s ist nicht nur wichtig, sich seelisch darauf einzustellen, daß man nach Österreich fährt, sondern zu wissen, ob das Reiseziel Ost- oder West-Österreich sein soll. Die Trennung ist zwar durch keinerlei Grenzbefestigung erkennbar, aber die Unterschiede sind enorm. Salzburg und Tirol gehören eindeutig zum Westen, dort können germanische TouristInnen meist mit D-Mark bezahlen und, wenn auch in Steirerhosen, so manchen Landsmann (oder eine Landsfrau im Dirndl) treffen und im großen und ganzen unbescholten ihre deutschen Gewohnheiten austoben. Wien liegt im Osten.

Hier ist man an Außenseiter noch wenig gewöhnt; es hat sich, vor allem außerhalb des Zentrums, noch nicht überall herumgesprochen, daß auch unkonventionelle Gestalten über Geld verfügen, und da kann es, um das goldene Wienerherz nicht zu den landesüblichen Schmähungen herauszufordern, vorteilhaft sein, sich als Tourist erkennbar zu machen. Neben einem Stadtplan oder einschlägigen Reiseführern im Gepäck empfiehlt es sich, befreundete Ethnologen um Lektüre über Höflichkeit, Rituale und Zeremonien zu bitten. Solange die BesucherIn den Wiener Schmäh ( unübersetzbar, eine besondere Art, Leute auf die Schippe zu nehmen) nicht versteht, wird er glauben, die Leute seien hier sehr freundlich. Es ist immer wieder berückend mitzuerleben, wie ein deutscher Gast strahlt, während der Einheimische freundlich lächelnd - eine Gemeinheit nach der anderen losläßt (eams einesogt). Wer - das kann auch in der Innenstadt passieren - eine Preisangabe wie „zwarazwanzgsechzg“ nicht versteht, fragt am besten auf italienisch nach, da geben sich die VerkäuferInnen Mühe, Italiener sind in den letzten Jahren hier zuhauf eingefallen, und weil zunehmend auch Touristen aus der Tschechoslowakei, Polen und der UdSSR kommen, besonders beliebt. Der anspruchsvollere Tourist wird natürlich nicht zuerst den Stephansdom oder das Riesenrad besichtigen, sondern den Karl-Marx-Hof oder einen anderen der Gemeindebauten aus der Zwischenkriegszeit, die Gasometer in Simmering oder das Nudisten- und Stechmückenparadies in der Lobau, wo vor 70 Jahren die Arbeiterkultur authentisch war.

Zum Heurigen geht manfrau, um sich von jedermann zu unterscheiden, lieber nach Stammersdorf, statt nach Grinzing. Die aktuellen In-Lokale sind in den neueren Ausgaben der Stadtführer aufgeführt - die Wiener Buchhandlungen sind voll mit jeder Art Viennensietäten, inklusive „alternativer“ Gebrauchsanweisungen (Anders reisen und Stichwort Wien, beides herausgegeben vom 'Falter‘, dem einen Szeneblatt mit einschlägigen Veranstaltungshinweisen, inklusvie „alternativer“ Besichtigungstouren). Durch den U-Bahn-Bau haben, wie die alten Innenstadtbewohner klagen, „die Proleten“ das Zentrum erobert, und in Anlehnung an das weltstädtische Vorbild im Norden gibt es jetzt auch ein „Bermuda-Dreieck“ in der Nähe der Ruprechtskriche (ältestes Gotteshaus in Wien, einzig romanische Kirche der Stadt), gesetztere Semester finden sich in den Kneipen - pardon! - Cafes in der Bäckerstraße oder überhaupt im 7. Bezirk, der sich zunehmend zum Szene -Quartier entwickelt. Wer aber das Besondere liebt, der sollte „kan Genierer habn“, die üppig wuchernde Historie zu genießen.

ien ist voll anderswo abrasierter Augennahrung, nicht so gelackt wie München, nicht so verkommen wie Erfurt. Hier sind so viele Gebäude, Schilder und hübsche Legenden erhalten oder renoviert, daß nicht jedes Kleinod auf den Präsentierteller gestellt werden mußte; Schlösser, Palais, Renaissancehöfe, jede Menge Barock, zunehmend mehr Fin de siecle und Jugendstil, weil's der Kunde verlangt und die Nostalgie nach der Moderne en vogue ist. Imperiale Pracht kann man nicht nur in der Hofburg, sondern auch im Finanzministerium bewundern, die benutzten Gebäude sind natürlich besonders reizvoll, ob Wissenschaftsministerium, Postsparkasse oder Creditanstalt. Und Österreich ist sehr katholisch, neben den Kirchen und Klöstern aller Zeiten und Stile sind für den Alltagskultursucher die allgegenwärtige Himmelmutter und Heiligenscheine der Aufmerksamkeit zu empfehlen. Ein Besuch im Völkerkundemuseum kann - weniger wegen der Ausstellungen, sondern um des Raumgefühls willen zur Zeitreise werden, danach über die Zuckerbäckerstiege hinauf zu den k.u.k. Dienstwohnungen, ein Spaziergang durchs Belvedere, vielleicht auch hinaus nach Schönbrunn, das rückt die Maßstäbe zurecht, damit man wieder weiß, wie lächerlich die Pracht in Wandlitz oder auch Bukarest war; nur nicht in den Zoo, der neben dieser kaiserlichen Sommerresidenz liegt, dort packt auch Leute, die keine besonderen Tierliebhaber sind, das Mitleid mit den eingesperrten Viechern. Wem das dann alles zu schön, heil und nett ist, der darf sich die Per-Albin-Hansson-Siedlung antun und wird vielleicht das Märkische Viertel für ein Erholungsgebiet haltten. Oder die UNO-City in Trans-Danubien, ein Ghetto für die Internationalen, deren Anwesenheit die Wiener kaum streift.

an kann in Wien sehr viele Bildungslücken musikalischer oder literarischer Art auffüllen, etwa beim Besuch der vielen Beethovenhäuser, hinterher läßt sich beim Heurigen, wenn der Kontakt mit den Einheimischen beim G'spritzten gelingt, stundenlang streiten, ob dieses und andere Genies zur deutschen oder österreichischen Kultur gehören. Aber wir wollen hier keine Touren oder Essentials für den Wien -Besucher vorschlagen, nur ein paar Anregungen für das Verständnis dieses Reservats geben. Dazu gehört selbstredend der Besuch im Kaffeehaus, das in der einschlägigen Touristenliteratur ausreichend gewürdigt wird. Wer einheimisch wirken will, bestellt einen kleinen oder großen Braunen, aber um Kaiser Franz-Josephs willen keinen Kaffee, und für die ethnographischen Studien ist es unerläßlich, die schauerlich schlechten Zeitungen zu lesen, vor allem die 'Kronen-Zeitung‘, das Revolverblatt samt seinen antisemitischen Glossen. Apropos - den umstrittenen, straßenwaschenden Juden, bis vor kurzem Teil des unfertigen Mahnmals von Hrdlicka, wird der interessierte Besucher vergeblich suchen, er ist vor ein paar Tagen stillschweigend entfernt worden, weil die Hunde drauf pißten und Touristen drauf picknickten, aber der Künstler vertreibt ihn in kleiner Ausgabe als Briefbeschwerer und Devotionalie. Wer es noch nicht weiß, sollte hier oder auch am Morzinplatz (ehemalige Gestapo-Zentrale) lernen, daß Österreich von Hitler überfallen wurde. Zur Mentalitätsgeschichte gehört auch, daß Sigmund Freud nur einen kleinen Beserl-Park mit seinem Namen ehrt, Dr. Karl Lueger hingegen, dem antisemitischen Lehrer Hitlers, ein großer Platz und ein Abschnitt der Ringstraße gewidmet ist.

Zu den großen Vorteilen Wiens gehört seine wunderschöne Umgebung, die üppige Vegetation, die Schlösser und Burgen, der wanderbare Wienerwald, fürs Vorstadtgefühl empfiehlt sich der Besuch in Ottakring oder Favoriten. Und bevor das Sanierungsprogramm die Spuren verwischt oder beschönigt, sollte man sich schon um des Kontrastes willen die zentrumsnahe Leopoldstadt, ehemalige „Mazzesinsel“ und heute noch Quartier für die Zuwanderer aus Kakanien, ansehen.

er stadtnah aus den Steinen raus will, mag die alte und die neue Donau nutzen, dort kann man auch radfahren, ansonsten ist Wien weder für Autofahrer noch für Radfahrer und schon gar nicht für Kinderwagenfahrer geeignet. Selbstbewußte Gehsteigbenutzer, die zufällig die bekannten Aufkleber für die Windschutzscheiben („Parke nicht auf unseren Wegen“) dabei haben, hätten viel zu tun. Und auch für die Anreise sollte frau wissen, daß bei der österreichischen Bundesbahn das Mutter-Kind-Abteil noch nicht erfunden wurde. Vegetarier müssen nach einem Quartier mit Kochgelegenheit fahnden, man ißt und vor allem nascht hier phantastisch, aber die Wiener sind überzeugte Fleischfresser. Mehr Dienst am Nostalgiker als ungebrochene Tradition sind die volkskundlich rekonstruierten Speisekarten, in der Titelsucht hingegen ist Österreichs Markenartikel „Brauchtum“ noch authentisch. Vergessen Sie, gnädige Frau, verehrter Herr, nicht, ihren Doktor- oder Magistertitel zu erwähnen, die Kellner oder auch die Polizisten werden Ihnen dann vorführen, was eine ordentliche Verbeugung ist. Gschamsta Diener (Gehorsamster Diener).

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