Des Kaisers letzte Tage

■ Ich warne euch, ihr Brüder Jahns, vor dem Gebrauch des Fußballwahns

P R E S S - S C H L A G Nach außen ist alles eitel Sonnenschein. Franz Beckenbauer, der Teamchef, hat seine WM-Formation gefunden, er wirkt ruhig, gelassen, ja sogar optimistisch. Doch der heitere Schein trügt. Die riesige Verantwortung, die auf seinen Schultern lastet, hat die Psyche des Teamchefs angegriffen. Ein geistiges Abseits zeichnet sich ab.

Irgendetwas stimmte nicht, irgendetwas. Dabei war die Vorbereitung doch optimal, alle Spieler auf der Höhe, und doch: irgendetwas stimmte nicht. Aber was? Unruhig, mit verknittertem Gesicht, verknitterter Frisur, verknitterten Gedanken schlich der Teamchef von der einen Ecke seines Zimmers zur anderen. Sicher, der Muskel vom Kohlenjürgen ist gerissen, aber was soll's. Doch der Alptraum, der ihn kürzlich aus dem Nachmittagsnickerchen hat hochschrecken lassen, der ist nicht so einfach aus dem kaiserlichen Strafraum der Gedanken zu wischen: 18.Juni, Mailand. Entscheidendes Spiel um den Einzug ins Achtelfinale. Und die Emirate, die vereinigten, die arabischen, die gewinnen 1:0. Gegen ihn. Der Angstschweiß auf seiner Stirn perlt neu auf, so oft er sich an den arabischen Treffer (91.Hadschi Halef Omar) erinnerte.

Nur ein Traum, die Mannschaft stand doch gut, war gut, und doch stimmte irgendetwas nicht. Und weil außergewöhnliche Situationen außergewöhnliche Maßnahmen erfordern, beschloß der Teamchef, das Oberaußergewöhnliche zu wagen, nämlich einen anderen um Rat zu fragen.

Ein Wichtel, ein blonder, häßlicher, war ins Zimmer geschlupt, und zu dem sprach der Kaiser: „Wichtel, Wichtel, sag‘ mir an, was ich jetzt wohl machen kann?“ Ohne zu zögern antwortete Wichtel: „Im Fußballolymp hoch über der Stadt, erfleh‘ des Fußballweisesten seinem Rat.„ Nun, mit der Grammatik hatte es dieser Wichtel mit dem volkstümlichen Namen Berti nie so recht gehabt, doch sein Rat schien nicht schlecht zu sein. Unverzüglich machte Franz sich auf den Weg.

Der Fußballweiseste. Wer sollte das sein, wenn nicht er? Beinahe wäre er gar nicht in den Olymp hineingekommen, weil der Torhüter, Turck hieß er, angeblich nie einen rein ließ, und zudem selbst eine Art Gott zu sein schien. Doch schließlich stand er doch vor dem Häuschen, das etwas angemoost war und an dessen Klingel nur die hinteren Buchstaben des Namens zu entziffern waren: “...berger“.

Das verwirrte den Verwirrten vollends. Berger? Welcher Berger? Doch nicht etwa Jörg Berger. Der und der Fußballweiseste? Unmöglich, der war erstens aus Frankfurt, und zudem kam der zweitens von drüben. Und wie er noch grübelte, da stand plötzlich ein kleines Männchen im uralten, blauen und sehr ausgebleichten Trainingsanzug vor ihm und fragte nach seinem Begehr‘.

„Mein‘ Begehr‘ ich dir benenn‘, Rat brauch‘ ich für die WM.„ Fast schon verzweifelt kam's aus des Teamchefs Munde. Rat, wiederholte das Männlein und holte ein kleines, sehr zerknittertes Notizbüchlein hervor und begann darin zu suchen. „Das hier vielleicht“, zog es nach einiger Zeit die Augenbrauen nach oben: „Der Ball, das tue ich dir kund, ist stets und immer ziemlich rund.„ Oder dies: „Ob ihr stürmt oder nur mauert, ein Spiel neunzig Minuten dauert.„

Der Teamchef blickte ihn an, wie weiland den Höttges, nachdem dessen Gegenspieler Sparwasser ins Tor und damit die einen Hälfte der Nation ins Mark getroffen hatte. Da legte das Männlein noch eins drauf: „Du stehst nur dann als Sieger da, spielst mit dem Käpt'n vom FCK!„ Jetzt platze Beckenbauer trotz aller Verirrung der Kragen: „Man kann den Titel nicht erzielen, wenn Hinz und Kuntz für Deutschland spielen!„ Sprach's, und schritt von dannen. Von hinten drang es an sein Ohr: „In Chile (1962) hätten wir gewonnen, hätt‘ Friedrich ich noch mitgenommen.„

Der Teamchef kannte Litti, Häsli, L. Matthias natürlich, dann den Guido, den Ratefuchs konnte er sich ganz gut merken, und vielleicht noch Olaf Möllermann, aber ganz sicher keinen Friedrich. So war auch dieser Rat wertlos, und tiefe Schatten nebelten den Teamchef ein.

Peter Unfried