: „Die Ernüchterungsphase hat schon begonnen“
■ Interview mit Prof. Gunnar Winkler, DDR-Sozialwissenschaftler und Autor des „Sozialreports 89“, zur Sozialunion / Die Anpassung erfolgt einseitig von der DDR an die BRD / Soziale Konflikte werden in Zukunft vermehrt von einzelnen Gruppen ausgetragen
Gestern wurden in der Volkskammer die neuen Sozialgesetze beraten. Gesetze, die weitgehend denen der Bundesrepublik gleichen. Der Anfang für die Sozialunion ist damit gemacht. Wie sich diese bisher darstellt, darüber sprach die taz mit Prof. Gunnar Winkler, Sozialwissenschaftler am Institut für Soziologie und Sozialpolitik der Akademie der Wissenschaft. Er ist Herausgeber des „Sozialreports 89“, in dem die soziale Lage der DDR-BürgerInnen analysiert wird. Außerdem veröffentlichte er eine Diskussionsbroschüre von Wissenschaftlern und Politikern zum Thema Sozialunion.
taz: Auf einer Podiumsdiskussion im Verlag „Die Wirtschaft“ nannten Sie die Sozialunion einen Prozeß der Sozialintegration der Bevölkerungen beider Länder und die Angleichung des Sozialrechts und der -leistungen. Ist dies mit dem Staatsvertrag tatsächlich geschehen? Ist damit der Anfang für eine solche Sozialunion gemacht?
Prof. Gunnar Winkler: Erstens, der Staatsvertrag schafft nur bestimmte Ausgangsbedingungen. Kein Staatsvertrag kann heute festlegen, wie sich der Prozeß der Sozialunion im einzelnen abzeichnet. Zweitens ist dieser Prozeß so schnell vonstatten gegangen, daß genaugenommen alle Für und Wider von niemanden bis ins letzte Detail bewertet werden können. Insofern wurde dazu gegriffen, das bundesrepublikanische Gesetzeswerk zu übernehmen. Ob das unter den heutigen Bedingungen voll in unsere Landschaft paßt, wird sich auch erst erweisen. Niemand hat Zeit, da zu experimentieren oder zu warten, bis alles ausdiskutiert ist.
Gibt es eine reale Chance der Annäherung?
Für eine Chance der Annäherung ist die Zeit zu kurz. Da standen alle Seiten unter Zeitdruck. Klar ist, mit der Marktwirtschaft müssen Gesetze auf sozialem Gebiet kommen, die dieser marktwirtschaftlichen Ordnung entsprechen. Aber inwieweit diese Gesetze, die natürlich einem ökonomischen Entwicklungsstand der Bundesrepublik von heute entsprechen, bei uns voll greifen, das vermag niemand zu sagen. Zu wenige wollen wahrhaben, daß wir für diese Übergangsphase eine eigenständige Politik der Angleichung oder Annäherung brauchen und daß nicht einfach ein System, das genaugenommen ökonomisch Jahre vorweg ist, hier einfach anwendbar ist.
Es entsteht der Eindruck, daß jetzt nur Übergangsregelungen geschaffen werden, nicht weil sie den Menschen über diese Phase des Umbruchs von einer Gesellschaftsordnung in die andere hinweg helfen sollen, sondern um damit die volle Übernahme der bundesrepublikanischen Gesetzlichkeit vorzubereiten. Die Annäherung erfolgt nur einseitig, nur von der Seite der DDR aus.
Ja. Im Gegenteil kann man sogar sagen, daß normale Reformbemühungen in der Bundesrepublik, die sich völlig unabhängig von uns dort vollzogen haben - ich nehme mal die Überwindung der Trennung in der Sozialversicherung von Arbeitern und Angestellten, die Forderung nach Pflichtversicherung für alle, die Forderung nach Mindestlöhnen oder Mindestrenten, die Überwindung der Kassenvielfalt -, daß diese Fragen im Moment anscheinend alle ad acta gelegt sind. Es gab ja auch in der Bundesrepublik von einigen Kräften Bemühungen, über den Umweg DDR bestimmte Probleme zu lösen. Das ist nun nicht mehr möglich.
Die sozialen Gruppen werden, so Ihre These auf der Podiumsdiskussion, in dem jetzigen Prozeß mehr als Objekte denn als Subjekte behandelt. Damit hat sich an ihrer konkreten Lebenssituation im wesentlichen nichts geändert.
Die eigentlichen politischen Träger der Umbruchssituation kommen gegenwärtig fast überhaupt nicht zum Zuge. Daß mit den Bürgerbewegungen sozusagen eine Abkehr von dem traditionellen Parteiensystem erfolgt, hat sich bisher nicht bestätigt. Querschnittsinteressenorganisationen, wie der Frauenverband, die Gewerkschaften oder die Volkssolidarität, sind ja im wesentlichen seit März nicht mehr zur Sprache gekommen. Und wenn überhaupt sozialer Dialog stattfindet, dann nicht zwischen Interessenverbänden und Politikern, sondern nur auf den Entscheidungsebenen als parlamentarisches Gefecht.
Im Staatsvertrag tauchen fast ausschließlich Begriffe wie Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie, Unternehmermitbestimmung, Arbeitnehmer auf. Also Begriffe, die nicht im sozialen Bewußtsein des DDR-Bürgers verankert waren.
Hinzu kommt außerdem, daß es die noch gar nicht gibt. Es gibt weder Gewerkschaften, die in der Lage sind, Tarifkämpfe zu führen, es sei denn, sie suchen sich Hilfe beim DGB, noch gibt es funktionierende Unternehmerverbände, die das entsprechende Gegengewicht bilden könnten. Im Staatsvertrag steht, daß diese Fragen zunächst auf der staatlichen Ebene ausgehandelt werden. Da kommt eine Reihe von Gesetzen, die der DDR-Bürger nicht kennt. Wenn er sie kennengelernt hat, was relativ schnell gehen kann, gibt es keine Partner im Staatsapparat, die in der Lage sind, diese Rechtsansprüche überhaupt zu bearbeiten.
Die Ungewißheit in der Bevölkerung ist groß. Niemand weiß genau, was auf ihn zukommen wird. Können Sie Genaueres zur derzeitigen Stimmungslage der DDR-Bürger sagen?
In einer Untersuchung zu Fragen der sozialen Sicherheit und Sozialunion, die wir in der vergangenen Woche durchgeführt haben, zeichnen sich nach den ersten Auswertungen der Antworten Tendenzen ab. In den Erwartungen der Leute treten extreme Auffassungen auf. Während die einen durchgängig Verbesserungen erwarten, sind andere wesentlich verhaltener. Aber insgesamt überwiegen die Hoffnungen. Duchgängig werden Verbesserungen vor allem in der Versorgung, beim leistungsgerechten Einkommen und bei der Rente erwartet. Mit Verschlechterungen rechnen viele bei der Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Mutterschaft. Generell wird davon ausgegangen, daß die finanzielle Belastung der Haushalte für das tägliche Leben, die Kinderbetreuung, Wohnen und Sozialversicherung steigt. Das System der sozialen Sicherung in der BRD wird von der Mehrheit als besser bezeichnet, ohne daß sie allerdings genaue Kenntnisse darüber haben.
Soziale Prozesse vollziehen sich in den Abläufen Krise, Konflikt, Widerstand. Das ist relativ schnell an der Umbruchsphase des Landes nachvollziehbar. Könnte dieser Prozeß, beginnend vielleicht mit einer Ernüchterungsphase im Herbst, wieder in Gang kommen?
Da bin ich mir nicht sicher. Bis zum Konflikt wäre ich bereit mitzugehen, aber ob es zum Widerstand kommt - das glaub‘ ich nicht.
Warum?
Weil der Konfliktstoff jetzt völlig anders liegt. Es ist kein politischer Konflikt mehr, der das ganze Volk berührt, sondern es sind soziale Konflikte von Einzelnen, von alleinlebenden Frauen mit Kindern, von einem Teil älterer Bürger oder von denen, die in Bitterfeld leben. Es wird ein großer Differenzierungsprozeß einsetzen. Vielen wird es nachhaltig besser gehen, und andere werden Sozialhilfe beantragen müssen. Die Proportionen sind heute nicht bekannt. Der Differenzierungsprozeß wird einsetzen zwischen denen, die arbeiten und denen, die nicht arbeiten, die in der Vorruhe sind und denen, die arbeitslos werden müssen. Und diese enorme Differenzierung verhindert weitgehend, daß größerer Widerstand entsteht. Der Mehrheit der DDR-Bürger wird es insgesamt besser gehen. Jeder hofft darauf; und jeder vermeidet, durch zusätzliche Konflikte in den Ruf zu geraten, den Prozeß bremsen zu wollen.
Denken Sie, daß es überhaupt eine Ernüchterungsphase geben wird?
Die hat schon begonnen.
Hat man Sie als Sozialwissenschaftler für die Bildung der Sozialunion herangezogen?
Für unseren Bereich kann ich sagen, teilweise ja, aber insgesamt unzureichend. Natürlich haben wir eine Reihe von Studien gemacht, Analysen, Bewertungen der Lebenslage, die in unterschiedlichem Maße genutzt oder nicht genutzt wurden. In höherem Maße von Stellen der Bundesregierung. Wenn ich davon ausgehe, daß der Staatsvertrag zu großen Teilen von der anderen Seite gemacht worden ist, würde ich meinen, wir haben unsere Ergebnisse eingebracht.
Interessieren sich auch hiesige Politiker für Sie?
Die Arbeit für unsere Ministerien fängt erst an. Das Ministerium Familie und Frauen sowie die Gleichstellungsbeauftragte beim Ministerrat hat uns jetzt gebeten, eine Analyse zur Sozialen Lage der Frau zu machen. Alles andere ging eher über den Umweg Bundesregierung an unsere Minister.
Interview: Anja Baum
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