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Die Staatsdiener organisieren sich

■ In Magdeburg wurde am Samstag die Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes (ÖTV) gegründet

Die Sitzungspause im Klubhaus Georgi Dimitroff im Magdeburger Stadtteil Buckau zog sich hin. Kaum hatte der Gründungskongreß der „ÖTV in der DDR“ sich am Sonnabend sein Präsidium gegeben und alle Formalitäten der Konstituierung bewältigt, geriet die üblicherweise so routinierte gewerkschaftliche Kongreßregie ins Stocken: Die Änderungsanträge für den vorliegenden Satzungsentwurf lagen noch nicht vor, weil der hauseigene Fotokopierer streikte und in aller Eile ein Copy-shop in der Magdeburger City aufgesucht werden mußte. Und so dehnte sich die Pause bis fünf Uhr nachmittags. Aber dann ging der Gründungsakt der „ÖTV in der DDR“ im Eiltempo über die Bühne. Kaum zwei Stunden später war die Satzung nahezu einstimmig beschlossen und das schmucklose Klubhaus mit seinem verblichenen, abgeschabten Interieur erlebte seinen „historischen Moment“: die erste DDR-weite Gründung einer freien Gewerkschaft nach der Wende.

„Ein bißchen enttäuscht bin ich schon“, kommentierte Peter Jüttner aus Halle nachher den reibungslosen Gründungsakt. Denn seine Delegation hatte eigene Vorstellungen über die innere Struktur und zukünftige Rolle der DDR-ÖTV mit nach Magdeburg gebracht. Der vorliegende Satzungsentwurf, maßgeblich formuliert von der Zentrale der West-ÖTV, wies einige demokratische Defizite auf: Die Delegation aus Halle bemängelte vor allem das Fehlen eines Beirats, also eines demokratisch gewählten Vertretungsgremiums zwischen den ordentlichen Gewerkschaftskongressen. Auch sollten die Tarifkommissionen gegenüber dem Vorstand der DDR-ÖTV gestärkt werden und gleichzeitig der geschäftsführende Gewerkschaftsvorstand nicht nur aus drei, wie im Satzungsentwurf vorgesehen, sondern aus sieben hauptamtlichen gewählten Mitgliedern bestehen. Mit drei Leuten habe die DDR-ÖTV keine Chance, die auf sie zukommenden Aufgaben aus eigener Kraft zu bewältigen, meinten die Delegierten aus Halle. Ihr Stadtparlament hat nämlich beschlossen, allen Beschäftigten der Stadt in den nächsten Tagen ein Kündigungsschreiben zukommen zu lassen und sie danach je nach Bedarf und selektiv wieder einzustellen.

Am Vorabend des Magdeburger Kongresses hatte eine Vorbereitungsgruppe bis nachts um drei um die endgültige Formulierung der Satzung gerungen, und die Hallenser mußten feststellen, daß sie mit ihren Vorstellungen einer größeren Eigenständigkeit der DDR-ÖTV alleinstanden. Die weit überwiegende Mehrheit der Ost-Gewerkschafter will möglichst schnell unter die starken Fittiche der West-Gewerkschaft. Und deshalb blieb der Eigenständigkeitswille der Hallenser auf dem Kongreß verhalten: nur die einzige Gegenstimme beim Beschluß über die Satzung kam aus ihren Reihen.

Die DDR-ÖTV wird nicht alt werden. Schon am ersten November, wenn die West-ÖTV per Satzungsänderung ihren räumlichen Geltungsbereich auf das Gebiet der DDR ausgedehnt haben wird, soll sie wieder aufgelöst sein. Ihre Mitglieder werden dann aufgefordert, sich der großen Schwester aus dem Westen anzuschließen. Genauso wird mit jenen sechs DDR -Einzelgewerkschaften (Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen, IG Transport, Gewerkschaft Wissenschaft, Gewerkschaft der Zivilbeschäftigten der Nationalen Volksarmee und Gewerkschaft der Armeeangehörigen) verfahren, die am 30. Mai in einem Kooperationsabkommen mit der West-ÖTV ihren Willen zur Gründung einer gesamtdeutschen ÖTV bekundet haben.

Die ÖTV der DDR wird in den nächsten vier Monaten das Auffangbecken für jene Gewerkschafter sein, die in den alten Einzelgewerkschaften nicht mehr arbeiten wollen oder bisher keiner Gewerkschaft angehört haben. Vor allem aber ist sie die schärfste Waffe der West-ÖTV im Streit um die gewerkschaftliche Organisation des Energiesektors. Die DDR -Gewerkschaft IG Bergbau, Energie und Wasserwirtschaft (IGBEW), die bislang auch die Kraftwerksbeschäftigten organisiert hat, will mit der bundesdeutschen IG Bergbau und Energie fusionieren. Diese sieht via DDR die Chance, den Energiesektor, der in der Bundesrepublik von der ÖTV organisiert wird, unter ihre Fittiche zu bekommen. Der IGBEW -Vorsitzende Witte hatte in einem unfreundlichen Brief die ÖTV-Chefin Monika Wulf-Mathies aufgefordert, das „Wildern“ im Energiebereich zu unterlassen.

Die ÖTV. Vorsitzende setzt nun auf die „Abstimmung mit den Füßen“. In Berlin haben sich die 11.000 Beschäftigten des Energiekombinats bereits in einer Urabstimmung zu 80 Prozent für einen Beitritt zur ÖTV entschieden. In Magdeburg sei die Stimmung ähnlich, versicherten Belegschaftsvertreter auf dem Kongreß. Sie können nun der DDR-ÖTV beitreten, die in einem Anhang zur Satzung ausdrücklich den Energiesektor als Organisationsbereich nennt. Für die nächsten Monate wird die „offene Feldschlacht“ zwischen den beiden Gewerkschaftslagern erwartet.

Die Erwartungen an die neugegründete ÖTV der DDR sind hoch. Viele Beschäftigte würden lieber heute als morgen den Schutz der starken West-Gewerkschaft suchen. Vor allem in den bedrohten Sozialbereichen der DDR geht die Angst um. „Wie wollen sie uns schützen?“ - fast flehentlich erhoffte eine Kindergärtnerin aus Suhl in einer Kongreßpause eine Antwort von der ÖTV-Vorsitzenden Wulf-Mathies. Die sprach von der notwendigen Kommunalisierung vieler betrieblicher Kindergärten. Aber ob wirklich alle Kindergartenplätze, alle Arbeitsplätze der dort Beschäftigten die Wende überstehen, wußte auch sie nicht zu sagen. Natürlich werde die ÖTV die Forderungen „mit aller Kraft“ unterstützen. Aber woher kommt die gewerkschaftliche Kraft, und wie groß ist sie? Die Antwort auf diese Fragen müssen die neuen ÖTV-Mitglieder in der DDR selbst finden.

Martin Kempe

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