Die ersten werden die letzten sein

■ Aber was die letzten sein werden, verschweigt die Bibel / taz sagt's

Herr, gebe, daß ich nie wieder drei Minuten zu spät komme, Dein Wort zu hören. Mach mich den Weg zu Dir finden, auf daß ich nimmerdar einsam umherirre im frisch gestrichenen Seitenschiff von St. Stephani. Denn Deine Rache ist fürchterlich gegen die, die da verschlafen haben und nicht hören wollen und abgekommen sind vom rechten Wege ins Kirchengestühl. Und sie werden des Tags nicht wieder froh werden, da sie Dich versäumen.

An Trinitatis hatte K. nicht nur lange geschlafen. Noch als die Glocken schon nach Gläubigen riefen, saß K. am Küchentisch bei M. und lauwarmer Melitta-Auslese und grübelte gottvergessen über Weltliches. „Steffi schon wieder geschlagen“ war es ihm aus dem Briefkasten gefallen, und K. wußte, daß das wahr war. Denn er hatte es mit eigenen Augen im Kabelfernsehen gesehen. Daran mußte er jetzt denken und vergaß darüber die Dreifaltigkeit.

K. kam zu spät zur Kirche, und die stand mit trügerischer Nachsicht in ihrem Kamü-Baugerüst, als habe sie in mütterlichem Gleichmut schon manchem manches verziehen. Und als er leis die Tür öffnete wie ein Strauchdieb, empfing sie ihn mit prächtigem Orgelklang. K. schlich auf Zehenspitzen hinein und sah: Nichts. Die Kirche war leer. K. würde eine ganze lange Predigt lang mit seinem Pastor allein sein. Er würde allein singen, allein das Vater unser aufsagen müssen. Er würde allein seinen Glauben bekennen in die unerträgliche Stille und sich dabei verheddern und nicht den Mut aufbringen zu schweigen, wenn man ihn auffordern würde: Lasset uns beten! In jedem Wort der Predigt würde er gemeint sein, nur er. Er würde nicht wissen, wohin den Blick wenden, und ab und zu verlegen einverständig dem Pastor zunicken müssen. Und der Pastor würde sich schämen wegen seines leeren Gotteshauses. Und K. würde sich schämen, und da schämte er sich auch schon, weil er sich bei dem Gedanken ertappte, heimlich kehrt zu machen. Denn noch waren es 10, 15 Schritte, und nicht einmal der Küster hatte ihn entdeckt. Aber er ging weiter durch die leeren Bänke, bis er um die Ecke das linke Seitenschiff einsehen konnte : leer. Und gerade als der letzte Orgelakkord verklungen war und nichts mehr zu hören und K. direkt in der Vierung stand und zum ersten Mal der Blick nach rechts frei war, da sah er sie. Die ganze Gemeinde. Und alle sahen ihn, wie er da hilflos rumstand unter dem Pranger des schweren Kronleuchters. Und alle konnten sehen, daß er störend zu spät gekommen war, und alle mußten wissen, daß er schon ewig nicht mehr in der Kirche gewesen war, weil er sonst doch gewußt hätte, wo der Haupteingang liegt. Und K. drückte sich allein in eine der leeren Bänke und schämte sich bis zum Segen.

Klaus Schloesser