Fußballechtzeit

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(Eröffnungsfeier, ZDF, Freitag. 16.30 Uhr) Mit Dieter Kürten („zehn Doppelstunden Italienisch: Benvenuti a Roma“) und Marcel Reif („Im Mailänder Stadion ist alles gefertigt von Experten“) warten wir - nicht aufs Christkind. Wie fiebern anderthalb Stunden lang - Fußballechtzeit, bloß ohne Pause dem Erlösersatz entgegen: „Die Fußballweltmeisterschaft 1990 ist angepfiffen.“ Und weil selbst Dieter Kürten nicht neunzig Minuten lang vom Kommenden reden kann, das ja noch in den Sternen steht, wird uns, revuepassierend, viel sehniges Beinfleisch präsentiert - schwarz oder alabasterweiß - von Fußballern, die als Favoriten gelten. Experten wiegen ihre Häupter: Wer wohl die Weltmeisterschaft gewinnen wird? Die Italiener? Ohoh, vielleicht, wenn... Die Deutschen? Das könnte sein, falls... Die Niederländer? Gut möglich, vorausgesetzt, daß... Aber für Arrrchentina steht's auch nicht schlecht, jetzt, wo sich Maradona, „der Wonneproppen mit den kurzen Beinen, die nicht vom Lügen kommen“, die Speckrollen wieder abgehungert hat. Oh, süße Not: In vier Wochen werden wir es wissen.

Wies jetzt wohl den Unsrigen ergeht im Trainingscamp? „Der ganze Troß lagert“ - nein, nicht vor Madagaskar - „gut 60 Kilometer vor Milano“. Besuchen wir sie doch mal. Vom „schönen Kaltern“, wo sie mit dem Essen nicht zufrieden waren - „kein Schweinebraten und keine Knödel“ -, sind sie nach Erba am Comer See gefahren. Mit Töpperwien. Dem brennt eine bange Frage auf der Zunge, die er Franz Beckenbauer stellt: „Ist nicht die Bedeutung der Fußball-WM ein bißchen zuviel des Guten?“ Ein bißchen schon, findet auch der Befragte. Aus Mailand verlautet Ähnliches: Man dürfe über dem Sport nicht die Probleme der Welt vergessen, erzählt uns Marcel Reif, denn jetzt haben wir uns endlich an die Eröffnungsfestlichkeiten im Mailänder Stadion herangepirscht, ins Zentrum des Zyklops, wo Gianna Nannini mit Edoardo Bennato faustrüttelnd und zähnefletschend den WM -Song brüllt, als gelte es, Psychiatriezellenwände zu durchstoßen. Und da - da kommen einhundertsechzig „holde Schöne“ (Reif) ins Stadion herein: gelb, grün, schwarz, rot gewandet, aus- und angezogen von italienischen Modemachern. Die Kameraleute wissen nicht mehr, wohin mit ihren Linsen: rein, in die kaum verhangenen Brüste, drauf auf die Bäuche, an Schenkeln hoch: „Wir müssen feiern lernen wie die Italiener“, japst Reif, während Fußbälle zu Blüten werden und in den Himmel schweben. „Mondiale 90“ - es ist so weit. Gewinnen wird, wer siegt.

Sybille Simon-Zülch