Noch ein Doppelschlag

■ Eine neue Platte und ein weiteres Buch von Wolf Biermann

Frieder Reininghaus

Wir hatten es nicht anders erwartet: Biermann meldet sich zu Wort und greift in die Saiten. Jetzt, da - wie er sagt „seine Sache“ verhandelt wird. Oder korrekter: Da diese Sache verhandelt wurde. Und alle ahnen, daß der Liedermacher mit dem unter Oberleitung des Dr. Kohl ausgehandelten raschen Anschluß einer christdemokratisch geführten DDR an die Bundesrepublik hadert. Und nicht nur er. Wohl auch der überwiegende Teil seines Publikums.

Warum aber hat es dann des Kunstgriffs bedurft, mit dem er sich unter die „Betroffenen“ hebelt? (Auch als Bürger der Freien und Hansestadt Hamburg kann und darf er ganz unverstellt die markante Stimme für die geschlagene Ablehnungsfront heben.) Biermann legt seine Befürchtungen hinsichtlich des „Ausverkaufs der DDR“ einem „Paul Kunkel, Arbeiterdichter im VEB Chemie Leuna“ in den Mund. Einem Kumpel im Geiste. Vielleicht resultiert der Winkelzug nicht nur aus Einsicht in die recht begrenzte literarische Qualität des parolendurchwirkten Mustergedichts, diesen redlich gebündelten Chemiefasern aus volkseigenem Rohstoff, sondern eher noch aus dem Bedürfnis, in das große „Wir„ -Gefühl einzutauchen: sich zugehörig fühlen zu dürfen dem „revolutionären Subjekt“ jener Bewegung, die der Poet die „demokratische November-Revolution“ nennt. Ein „Subjekt“, das freilich so gründlich anders dachte und handelte, als er wollte.

Wolf P. Kunkelmann also tritt uns trotzig von der schwarzen Scheibe aus entgegen; er appelliert nun im Mai, in dem die Platte auf den Markt kommt, an politische Größen, die bereits einer kurzen Kapriole der Geschichte angehören: „Wir brauchen keinen Konkursverwalter / Hans Modrow, Du, da geht's nicht lang! / Verramsch uns nicht an Krupp und Thyssen / Mercedes-Benz und Deutsche Bank / Fleiß, Freiheit, Spaß und Menschenwürde / Sind unser stärkstes Kapital / Wir woll'n endlich eigene Fehler machen / - und nicht die des Westens noch einmal.“

Strophen wie diese wirken bestenfalls anrührend und zumindest wie stehengeblieben. Sie sind ein einziges „Ja, wenn damals“ und „Hätte doch“. Daß Biermann jetzt noch lauthals den „eigenen Weg“ der DDR bedichtete, der aus einer auf „Fleiß, Freiheit, Spaß und Menschenwürde“ gegründeten Identität resultiere, war eine grobe Mißachtung der Zeichen jener Zeit, die dem prononcierten Dichter von Zeitgedichten nicht so ohne weiteres unterlaufen sollte. Da war der Wunsch ganz unbedenklich Vater der Gedanken. Die rasche Verderblichkeit der politischen Lyrik ist freilich nicht erst seit dem vergangenen Herbst und Winter zu beobachten. Schon 1949 schrieb Kurt Weill an seinen Mitautor Bertolt Brecht, als dieser die Dreigroschenoper „konkretisierte“ und auf die Nazi-Größen umschneiderte, daß „diese neuen Texte eine Abschwächung darstellen“ und „daß doch Göring, Schacht und Keitel schon heute kaum mehr aktuell sind“ knapp dreiJahre nach ihrem Ableben.

Krenz scheint noch rascher verderblich als Heß. Gut - oder schlecht, denkt man. Da ist der Biermann eben, weil er von den garstigen Umständen an der Teilhabe gehindert wurde, mit hängender Zunge zu spät gekommen zum großen Aufbruch aus mitverschuldeter Unmündigkeit und auferlegter Unfreiheit. Aber das Mitmachen ist keineswegs Garant für treffsichere Reime oder einen gelungenen Text. Der Dichter selbst merkt das an in einer Rezension von Stefan Heyms Collin. Warum aber tut Biermann dann fortgesetzt (und durch seine Veröffentlichungsstrategie offensichtlich auch jetzt noch) so, als ob er mittenmang gewesen sei und der Stichwortgeber fürs Janze? „Wir wollen dich“, ruft er einer der gestürzten DDR-Größen nach der anderen zu, „nicht ins Verderben stürzen / du bist schon verdorben genug.“ Allüberall das falsche „Wir“: „Nun atmen wir wieder, wir weinen und lachen / Mensch, wir sind stärker als Ratten und Drachen.“ Aber ganz offensichtlich macht- und sprachlos gegenüber dem ewigen Spießer, der sich zur treibenden Kraft der „historischen Stunden“ aufschwang. In den Traum gerettet

Wolf Biermann hat, wieder einmal, zu einem Doppelschlag ausgeholt (in dem guten Dutzend Jahre, die er unfreiwillig im Westen saß, trat er ziemlich regelmäßig alle zwei Jahre mit einer Schallplatte, einem Textband und in deren Gefolge dann mit einer Tournee an die Öffentlichkeit). Aufs Neue also präsentiert er Frisches und Angewelktes, Höhenflüge der Stimmung (weniger der Stimme) und Dokumente der Depression. Wieder gab er sein Bestes, also manchem Saures und mancher Süßliches - und den vielen also Süßsaures in den beiden Kunst-Disziplinen, in denen er seine schmalen Bahnen beschreitet. Aber eben die klare dünne Spur macht ihn unverwechselbar: der Zickzack-Kurs der Gefühle in der gewundenen Fassung der politischen Argumentationen, aus denen freilich manchmal in toller Lust oder weinwogend eine Porzellanecke herausgeschlagen wird - alles einer so geradlinig konventionell angelegten wie eingängig zugeschnittenen Musik aufgesteckt: „Wolf Biermann (hicks) rettet die De-de-er / Im Kuddelmuddel mit starkem Arm / Er lenkt das Wrack dem Hafen zu / Hält fröhlich Kurs auf die Commune / Und zieht die Freiheitsflagge auf.“

In solchen Momenten wird Biermanns Gesang tatsächlich zum Doppelschlag: Er schlägt nach rechts und gegen die Sehnsucht, daß der DDR ein rascher Retter komme (der mit starkem Arm das Wrack dem Hafen und einem Wirtschaftswunder zusteuere); zugleich schlägt er sich an die eigene Brust. Er wäre ja doch gar zu gern als einer der „Retter“ dieses bankrotten und ruinierten Landes in den Ring gestiegen - und mußte gewahr werden, daß nicht einmal seine Lieder mehr so recht ankommen. Die von Biermann angebotene Hilflosigkeit (die der „Menschheitsretter“, der sich doch selbst nicht zu helfen weiß, unablässig offeriert), erschien als erhebliche Produktivkraft gegen versteinerte Verhältnisse, verkrustetes Bewußtsein, als Balsam auf nicht verheilten Wunden. Aber sie ist das Allerletzte, was die DDR-Aufbrüchler serviert haben wollen. Den „Traum der Commune“, der sich als Rückfall doch noch einmal auf die Platte eingeschlichen hat, werden sie lange nicht mehr träumen wollen (und wenn, wird's ihnen ein Alptraum sein). Und neuer Aufruhr im perspektivisch unterentwickelt gehaltenen Osten wird in drei Teufels Namen anheben, aller Voraussicht nach aber kaum in denen von Marx & Engels. Wenn überhaupt noch etwas explosiv sich entlädt in diesem Konflikt mit den tiefen historischen Ursachen... Die stereotypen Formeln

Biermanns Texte - die der Gedichte wie die prosaischen sind (nicht anders als die Tonsätze aus den Saiten seiner Gitarre und aus seiner Feder) in hohem Maß aus Versatzstücken, aus Fertigbauteilen zusammengesetzt. Die „verdorbenen Greise“ sind das Leitmotiv No. 1 der neuen Platte und in -zig liebevollen Varianten auch im Buch zu finden. „Sie haben uns ihre Untaten verziehen“, schreibt er, der solches Unrecht erleiden mußte, immer wieder in Reim und Klartext. Die „Marx- und Engels-Zungen“ haben sich jedoch bei solcher Kunstübung ebenso verschlissen wie die noch und nochmalige Beschwörung des „Commune-Traums“.

Und die Musik geht ihren festen Gang dazu. Sie dünkt mich die große Invariante in einem von politischem Umdenken und von den Wechselfällen der Liebe geprägten Dichterleben. Zwölf Strophenlieder grüßen von der neuen Platte: zwölfmal der mechanische Wechsel von referierender Strophe und zusammenfassendem Refrain (selbst unsere Musiklehrer mit ihrer vorsätzlich pädagogischen Musik müssen da abwechslungsreicher sein). Biermann nicht: sein Cantus steht als Fels in der Brandung des musikalisch Neuen. Ein Klotz, der im „Aufbauton“, dem positiven Dur-Tralala der frühen DDR -Jahre unerschütterlich gegründet bleibt, auch wenn manche Schärfe des eislerschen „Kampflieds“ und viele Motive aus der Folklore anderer Länder dazuwuchsen.

Nur eines der Lieder in der neuen Sammlung bricht - in mehrfacher Hinsicht - aus dem Schema aus: das dreizehnte. Bezeichnenderweise liegt ihm ein sehr alter Text zugrunde, dessen artifizielle Form aber gegen die musikalische Mechanik opponiert: William Shakespeares 66. Sonett. Das ist der kleine Finger, den Biermann den Freunden des differenzierteren Hörens anbietet. Aber die sind eben so, daß sie vom überreifen Meister die ganze Hand haben wollen. Sonst aber geht es munter mit imaginärem Kampfliedton zu neuem Gefecht, das aber gewiß auch nicht das letzte ist.

Selbst der Katzenjammer, die schwarze Melancholie, in welche die hintere Seite seiner neuen Platte verfällt, kommt noch in wohlgeformten Zeilen, Reimpaaren und regelmäßigem Versaufbau einher (so aufrührerisch tief kann also der literarische Schmerz nicht gehen). Sogar der Bericht von bleierner Müdigkeit bleibt literarisch ausbalanciert zwischen der Schwere des Lebens und der diszplinierten Form, musikalisch zwischen der wundersamen Klage, die ich ja noch immer so gern von Biermann hören mag, und jener ästhetischen Geisterbeschwörung, die in der frühen DDR der problematische Brauch wurde.

Zu den entscheidenden Errungenschaften der Moderne gehört die Empfindlichkeit gegen Wiederholungen - denen der Texte wie denen der Musik (mit den variierenden Wiederholungen und den Monotonien des blanken Repetierens neu umzugehen, darf als Kennzeichen der Postmoderne gelten). Dem alten Ernst Bloch spielte Biermann kurz nach der Ausbürgerung aus der DDR in Tübingen vor: Bloch, schon fast blind, unterbrach den Liedermacher nach der dritten Strophe ungehalten mit dem Hinweis, daß er aber nicht schwerhörig sei. Traurige Faulheit

Vorwiegend an Harthörige scheint sich auch die von Hannes Stein getroffene Auswahl von Biermann-Texten aus den Jahren 1976-1990 zu wenden - jeder markantere Gedanke findet sich wenigstens zweimal auf den 331 Seiten: Texte, durch die sich die Lust am Widerspruch zieht - der Einspruch gegen die Nachrüstungspolitik und gegen die „Perversion“ des Sozialismus. Die Legitimationsbasis der DDR freilich bleibt unangetastet, obwohl darüber nachzudenke wäre, ob das Aufteilen von Ländern unter Siegern nicht ebenfalls eine Perversität bedeutet. Mehrere Anläufe des Anschreibens gegen das Kriegsrecht in Polen - ob es nun ein „kleineres Übel“ sei oder nicht: „Ich neige besonders zu beiden Haltungen.“

Eine Menge ist zu erfahren darüber, wie dieser Biermann mit Herz und Kopf gebeutelt wurde (und auch wie es seinen tiefer sitzenden Organen erging), wie ihm manch eherne Gewißheit abhanden kam. Da und dort nimmt das Rechtfertigungsbedürfnis überhand, wenn sich Biermann beispielsweise zu den „wasserdichten Helden“ rechnet - „erst radikale Stalinisten, dann radikale Anstistalinisten“. Das notorische Mutmachen (auf der Platte wie in der Prosa) wird ein Teil der Biermann -Kundschaft nicht missen wollen. Ich fürchte, es ist nun endgültig zur routiniert absolvierten Pflichtübung geworden. Gar gesungen: „Die faule Traurigkeit raus aus der Brust! / Wir hatten's vergessen und immer gewußt.“ Da ist das Verdikt nicht weit, das Wolf Biermann selbst so glasklar verhängt hat (freilich über einen minder talentierten Kollegen): „Diese Musik ist ein elender Reichtum, der das reiche Elend der Texte wohlgefällig übertüncht.“ Aber in der selben Abhandlung über Wolfgang Niedecken und BAP steht des weiteren der auch für Biermanns Leben und Kunst aufschlußreiche Satz: „Es gibt Situationen, in denen man nur zwischen zwei schlechten Möglichkeiten wählen kann.“

Diesmal war das Buch, in aller Bescheidenheit Klartext im Getümmel überschrieben, kein bloßes Supplement zur Platte, sondern ein großer Schlag nach den „historischen Stunden“. Ach, so viele bedenkenswerte Gedanken sind da versammelt. „Ich war unverwüstlich geschützt durch meine Dummheit“ indem solche Erkenntnis jedoch ein zweites oder drittes Mal publiziert wird, neigt sich das Recht auf Naivität seinem Ende zu. Auch der (an Reiner Kunze adressierte) Hinweis, daß und wie Schablonen auf schwache Gemüter wirken - ein Gedankenblitz im Getümmel, fürwahr. Aber ein Weiterentwickeln der künstlerischen Mittel, das sich der Poet und Komponist B. ins Stammbuch schrieb und das sein Herausgeber in die Anthologie aufnahm, das können wir beim besten Willen in den beiden neuen Produkten nicht erkennen: „Mach weiter“, schrieb B. in der Bitte an mich, „auch weiter, auch weiter als bisher!“

In diesem Sinne auf ein Neues, lieber Wolf! Ich wünsch Dir ja, daß Du nicht nur klare Worte zum gelaufenen Rennen „deiner Sache“ findest, sondern auch noch neuen Ton der Poesie wie der Musik. Der Doppelschlag übrigens, ist eine musikalisch-rhetorische Figur, eine barocke und klassische Verzierung, die sich über dem strengen Ordnungsmuster der Melodie erhebt und die als besonders „beredt“ gilt. Auch in diesem Sinn also wünsch ich mir einen „Doppelschlag“. Und ich habe keine Sorge, daß wir ihn in zwei Jahren etwa empfangen werden, so rüstig und robust, wie Du Dich präsentierst - und gar noch von der strotzenden Kraft abzugeben versprichst: „Junge, mach nicht schlapp / brauchste noch paar Kräfte / - ich geb dir was ab.“

Wolf Biermann: „Gut Kirschenessen. DDR - ?a ira“. EMI LP/MC/CD, 1 C 066-7 94272

Wolf Biermann: „Klartext im Getümmel - 13 Jahre im Westen. Von der Ausbürgerung bis zur November-Revolution“. Hrg. v. Hannes Stein, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1990; 336 S., 18,80 DM