In Taiwan grassiert das Festlandfieber

Die Annäherung zwischen Taiwan und der Volksrepublik China hat nicht unter dem Pekinger Massaker gelitten / Der Handel floriert, Direktinvestitionen taiwanesischer Firmen auf dem Festland könnten schon bald möglich sein / Es geht darum, sich den Zugang zum rotchinesischen Markt zu sichern  ■  Von Henrik Bork

Es war einmal ein König, der lebte auf einer kleinen Insel im chinesischen Meer. Er war ein guter König und baute seinen Untertanen große Fabriken, auf daß alle reich wurden

-besonders der König selbst. Da begab es sich eines Tages, daß der König eine riesengroße Fabrik bauen wollte, die Insulaner ihm jedoch nichts mehr von ihrem knappen Boden geben wollten. Da wurde der König schrecklich böse und baute seine Fabrik in einem armen Nachbarland.

Das Märchen könnte bald Wahrheit sein. Der Herrscher heißt Y.C. Wang (und „Wang“ ist das chinesische Wort für König) und sein Reich ist die „Formosa Plastics Group“, der größte petrochemische Konzern der „Republik China auf Taiwan“. Anfang dieses Jahres ließ er während eines Amerikabesuchs die Bombe platzen. Einem Reporter des 'Time-Magazine‘ verriet Wang seine Absicht, in der Volksrepublik China zu investieren. Während mehrerer geheimer Besuche auf dem kommunistischen Festland hatte er mit hochrangigen Politikern verhandelt und konkrete Angebote mitgebracht. Der Eklat war perfekt. Wang verletzte ein Tabu, an dem in Taiwan bisher niemand zu rütteln wagte. Politikern der regierenden Nationalpartei verschlug es die Sprache, die Zeitungen hatten einen Fortsetzungsroman für ihre Titelseiten.

Direkte Firmenkontakte mit dem „vorübergehend von kommunistischen Banditen besetzten Festland“, wie die Volksrepublik noch bis vor kurzem offiziell genannt wurde, sind in Taiwan gesetzlich verboten. Die Behörden kündigten folglich eine Untersuchung an, die klären soll, ob der Plastiktycoon für seine Fahrt bestraft werden muß. Falls er verurteilt würde, könnte ihm für ein Jahr das Verlassen der Insel verboten werden. Wang beeilte sich, seine Reise als „privat“ zu bezeichnen. Sie habe lediglich Studienzwecken gedient, die Realisierung des Projektes liege in weiter Ferne. Präsident Lee Teng-Hui warnte: „Die Zeit ist nicht reif für einen solchen Schritt.“ Doch Wang denkt da offenbar ganz anders: „Dies ist die beste Zeit, auf dem Festland zu investieren“, sagte Wang in Anspielung auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Volksrepublik, die sich seit der Niederschlagung der Demokratiebewegung im Juni letzten Jahres weiter verschärfen.

Die Gründe für den beherzten Vorstoß des Plastikkönigs sind freilich in Taiwan selbst zu finden. Während des wirtschaftlichen Aufschwungs in den letzten Jahren sind die Löhne beachtlich gestiegen. Der Durchschnittslohn in der Fertigungsindustrie beträgt etwa 750 US-Dollar, zirka zwölf Prozent mehr als im Vorjahr. Hinzu kommt ein großer Mangel an Arbeitskräften, der die Wirtschaft des Landes seit langem plagt. Die Zahl der offenen Stellen war 1989 fast dreimal so hoch wie die Zahl der Arbeitssuchenden. Viele Kunden der „Formosa Plastics“ in der plastik- und textilverarbeitenden Industrie Taiwans sind bereits vor diesen Problemen geflohen und produzieren heute in den Billiglohnländern Südostasiens.

Y.C. Wangs Entschluß, auf das Festland auszuweichen, waren noch handfestere Frustrationen vorausgegangen. Zwei Jahre lang hatte der Konzernchef im eigenen Land einen Bauplatz für das geplante, 240 Hektar große Chemiewerk gesucht. Doch wo immer seine Bautrupps auftauchten, blockierten Umweltschützer und besorgte Anwohner das Gelände. Die anderen sechs Werke der „Formosa Plastics“ waren ihnen offenbar Umweltbelastung genug. Und seit der schrittweisen Demokratisierung lassen sich solche Proteste in Taiwan nicht mehr so einfach ignorieren. Das ist natürlich schlecht für das „Investitionsklima“. Erschwerend wirken sich in diesem Zusammenhang die starke Aufwertung des Neuen Taiwan-Dollars und das veraltete Finanzsystem des Landes aus.

Die Regierung der Volksrepublik China hat zumindest fürs erste bewiesen, daß sie mit Protesten fertig wird. Wenn gar nichts mehr hilft, rollen dort die Panzer. Aufgrund der wirtschaftlichen Misere und dem Rückgang der Investitionen aus den westlichen Industrienationen besann man sich noch mehr als zuvor auf die Landsleute in Taiwan - trotz aller ideologischen Gegensätze. Als der taiwanesische Konzernchef

-heimlich - die Gouverneure der südchinesischen Provinzen Xiamen, Fujian und Guangdong besuchte, stieß er auf viel Interesse an seinem auf sieben Milliarden US-Dollar bezifferten Projekt. Ein Drittel der Baukosten wollte die Bank of China in der Landeswährung Renminbi vorschießen.

Zwei Jahre lang sollte „Formosa Plastics“ in einer eigens eingerichteten Sonderwirtschaftszone steuerfrei produzieren können, die folgenden drei Jahre zum halben Steuersatz. Und billige Arbeitskräfte habe man mehr als genug. Das muß Musik für die Ohren des Plastikkönigs gewesen sein!

Auch Umweltschutz ist bisher ein Fremdwort für die Regierung der VR China. Alles in allem also ein gutes Investitionsklima für Taiwans Wirtschaft? „Nicht unbedingt“, sagt Ernst Hagemann, Chinareferent des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, „als Billiglohnland ist die Volksrepublik China schon wieder out. Aber die Taiwanesen denken strategisch. Mit ihren Investitionen wollen sie sich den Zugang zum rotchinesischen Markt sichern.“ Für die überwiegend auf Export orientierte taiwanesische Wirtschaft ist dies eine Überlebensfrage. Der Konkurrenzkampf ist groß. Japan, aber auch Schwellenländer wie Südkorea drängen mit ihrem Kapital in die Volksrepublik. Daher der wachsende Druck aus Wirtschaftskreisen auf die eigene Regierung, die alte Ideologie zu verabschieden und den neuen Realitäten Rechnung zu tragen.

Der bilaterale Handel nimmt bisher notgedrungen noch den Umweg über die britische Kronkolonie Hongkong oder über Japan. Das Massaker von Peking, das auch in Taiwan große Empörung auslöste, hat ihn nicht beeinträchtigt: 3,8 Milliarden Dollar lautet die Bilanz für 1989, etwa dreißig Prozent mehr als im Jahr zuvor.

In der Tat grassiert in Taiwan seit einiger Zeit ein regelrechtes „Festlandfieber“. Im vergangenen Jahr besuchten eine halbe Million Taiwanesen die Volksrepublik. In der Nationalchina gegenüberliegenden Provinz Fujian, der Heimat vieler Taiwanesen, ist der Taiwan-Dollar mittlerweile eine anerkannte Schwarzmarktwährung. Jürgen Franzen vom Deutschen Wirtschaftsbüro in Taipei spricht von etwa 2.000 Joint -venture-Betrieben, die taiwanesische Geschäftsleute mit Partnern vom Festland eingegangen seien. Natürlich sind darunter viele kleine Projekte wie Restaurants oder Hotels. Oft stellen Verwandte, die sich jahrzehntelang nicht sehen durften, kurzentschlossen einen Familienbetrieb auf die Beine.

Das Geschrei um Plastik-Wangs Pläne, direkt auf dem Festland zu investieren, ist daher nur so zu verstehen, daß er mit seinem öffentlichen Auftritt die Doppelzüngigkeit der taiwanesischen Politik vorführte. Investitionen taiwanesischer Firmen auf dem Festland werden seit längerem von der Regierung stillschweigend geduldet. Strohmänner aus Hongkong halfen, das Gesicht zu wahren. Genaue Zahlen sind daher auch schwer zu finden. In taiwanesischen Statistiken tauchen diese Summen natürlich nicht auf, da es sie offiziell ja gar nicht gibt. Die Kommunisten sind da auskunftsfreudiger: Letztes Jahr erlaubte die Volksrepublik nach eigenen Angaben 552 taiwanesische Investitionen in einer Gesammtsumme von 437 Millionen Dollar. Ingesamt nennt die chinesische Regierung die Summe von einer Milliarde US -Dollar taiwanesischer Investitionen, die bisher ins Land flossen.

Die Sirenenklänge, mit denen Peking die kapitalistischen Landsleute über die Straße von Formosa locken will, werden immer heftiger. Diese Woche empfing der chinesische Außenhandelsminister Zheng Toubin wieder einmal eine Delegation taiwanesischer Geschäftsleute. Sie seien herzlich willkommen, „um Geld zu verdienen und reich zu werden“, sagte Zheng. Zwar ist das überraschende Gesprächsangebot abgelehnt worden, das Taiwans Präsident Lee Teng-Hui der Pekinger Führung kürzlich gemacht hat. Doch auf wirtschaftlichem Gebiet ist die Annäherung der beiden chinesischen Staaten nicht mehr zu bremsen. Das Festlandfieber in Taipei greift um sich. Und das Märchen vom Plastikkönig, der das Nachbarland beglückt, könnte schon bald von der Wirklichkeit eingeholt werden.