„Fünf Nein mit Aber“ in Taiwan

Nach Jahrzehnten der Isolation versucht Taiwan eine Politik der Annäherung an die Volksrepublik China / Handel und inoffizielle Kontakte nehmen zu / Tritt die alte Garde der Antikommunisten ab? / Die Wiedervereinigung ist nicht in Sicht  ■  Von Kai Strittmatter

Lee Tenghui, gerade wiedergewählter Präsident der „Republik China auf Taiwan“, tat im vergangenen Monat etwas ganz Unerhörtes: Er bot der kommunistischen Regierung in Peking Gespräche an. Damit verletzte er gleich zwei Prinzipien, die in Taiwan als sakrosankt gelten - erstens den Alleinvertretungsanspruch für ganz China und zweitens das Gebot, mit Kommunisten nicht zu reden.

Noch zum Nationalfeiertag im letzten Jahr zeigten Tausende von Glühbirnen über den Rednertribünen die alte Botschaft: Das großchinesische Reich in den Grenzen von 1911, äußere Mongolei inklusive... Es ist der Traum der Greise; die meisten Abgeordneten des Parlaments und der Nationalversammlung sind seit 1949 im Amt. Abgewählt können sie nicht werden, solange ihre Wahlkreise, vorübergehend, versteht sich, von den „kommunistischen Rebellen“ beherrscht werden. Das Volk nennt diese Parlamentarier inzwischen „Alte Diebe“.

Der Traum vom großen Reich

In einem Punkt waren sich Taipei und Peking schon immer einig: Es gibt nur ein China, Taiwan ist ein Teil davon und das Volk wird nicht gefragt. Beide Führungen beharren auf ihrem Alleinvertretungsanspruch für das ganze eine China. Da es aber de facto seit langem zwei China gibt, vollführen Kommunisten wie Nationalchinesen die abenteuerlichsten Verrenkungen, um diese Realität zu ignorieren.

1949 war Chiang Kaisheks Kuomintang vor den Kommunisten auf die Insel Taiwan geflohen, im Troß der 600.000 Soldaten kamen auch die Regierung und das Parlament. Gegen den zunächst erbitterten Widerstand der einheimischen Taiwanesen übernahm die Kuomintang die Macht in dieser chinesischen Provinz. Chiang ernannte Taipei zur „Übergangshauptstadt“ der Republik China und kündigte großspurig an, er wolle von hier aus die Rückeroberung des Festlandes vorbereiten. Als die Kommunisten gerade dazu ansetzten, als letzte der Provinzen auch Taiwan zu „befreien“, brach der Koreakrieg aus. Die USA entsandten ihre Siebte Flotte, um Taiwan zu schützen und durchkreuzten so die Pläne Mao Zedongs, die Kuomintang endgültig zu vernichten.

Damit gab es nun zwei Regierungen auf chinesischem Gebiet, beide mit dem Anspruch, ganz China zu beherrschen, beide zunächst ohne die militärischen Mittel, diesem Anspruch Geltung zu verleihen. Statt dessen begann eine heftige Auseinandersetzung auf der politischen Ebene. Bis 1970 schienen die Nationalchinesen keine schlechten Karten zu haben - nach der Landreform erlebte die Insel Taiwan eine beispiellose wirtschaftliche Blüte, während die Volksrepublik sich mit der Kulturrevolution innenpolitisches Chaos und außenpolitische Isolation einhandelte.

Doch das Blatt wendete sich: Immer mehr Staaten begannen, den realen Machtverhältnissen Rechnung zu tragen und nahmen diplomatische Beziehungen zur Volksrepublik auf. Angesichts des Alleinvertretungsanspruchs beider China bedeutete das den Abbruch der Beziehungen zu Taipei. Heute unterhält Taiwan nur noch mit 26 Ländern diplomatische Beziehungen. Der größte Schock kam 1979, als die USA ihren Botschafter nach Peking versetzten.

In der Volksrepublik war man der Meinung, angesichts dieser außenpolitischen Isolation sei Taipei nun gezwungen, auf Verhandlungsangebote einzugehen. Nach mehreren Vorschlägen, mit großem propagandistischem Getöse vorgetragen, gab schließlich Deng Xiaoping 1983 die Losung „Ein Land, zwei Systeme“ aus. Den Begriff „Befreiung“ hatte man inzwischen durch „Wiedervereinigung“ ersetzt. Taiwan sollte sich der Zentralregierung in Peking unterwerfen, sein Wirtschafts und Gesellschaftssystem aber behalten dürfen. „Befreiung“ hin, „Wiedervereinigung“ her - den Nationalchinesen klang beides nach Unterjochung. Für sie waren die Gesprächsangebote aus Peking nichts als „Gift in süßen Pillen“.

Die Politik der „Drei Nein“

Taiwan blieb bei der Politik der „Drei Nein“ (san bu): keine Kontakte, keine Verhandlungen, keine Kompromisse. Bestärkt durch ihre wirtschaftliche Macht - Taiwan ist heute auf Rang 12 unter den Wirtschaftsnationen und der größte Devisenbesitzer der Welt - blieb die Regierung bei ihrer unnachgiebigen Haltung. Noch immer sind direkte Post-, Handels- oder Verkehrsbeziehungen mit dem Festland nicht erlaubt; tatsächlich gibt es einen regen Austausch inoffiziell, via Hongkong oder Japan, durch Vermittlung des Roten Kreuzes...

Die Übermacht des kommunistischen China ist nicht zu bestreiten, doch die Furcht vor dem schleichenden Gift der Subversion treibt seltsame Blüten: Auf Briefmarkentütchen findet sich die Mahnung „Sammelt nicht die Briefmarken der kommunistischen Banditen!“ Supermarktquittungen belehren „Jedermann hat die Pflicht, Geheimnisse zu wahren und Spione abzuwehren“, und „Du Kommunist!“ ist eine Beleidigung, wenn man sich hintergangen oder übervorteilt fühlt. Militanter Antikommunismus und der Anspruch auf künftige „Rückeroberung“ des Festlandes dienten der Kuomintang seit 1949 als Rechtfertigung für den Zugriff auf alle politische und militärische Macht in Taiwan. Chiang Kaishek und später sein Sohn Chiang Chingguo regierten Taiwan mit diktatorischen Vollmachten, abgesichert durch Kriegsrecht und Sondergesetze.

Vorsichtige Liberalisierung

1986 wagte der populistisch auftretende Chiang Chinguo erste zaghafte Schritte in Richtung Demokratie. Die Teilnahme der „Demokratischen Fortschrittspartei“ an den Parlamentswahlen wurde geduldet, die offiziell nicht zugelassene Oppositionspartei errang auf Anhieb 22 Prozent der Stimmen. Ein Anlaß für diese vorsichtige Liberalisierung dürfte der Sturz des Diktators Marcos auf den benachbarten Phillipinen gewesen sein, zum anderen versuchte Taiwan, sich der Weltöffentlichkeit als das „demokratische China“ zu präsentieren. Spektakuläre Schritte folgten: Am 14.Juli 1987 hob Präsident Chiang das seit 14 Jahren geltende Kriegsrecht auf, liberalere Presse und Demonstrationsgesetze folgten ein halbes Jahr später. Lee Tenghui, der Nachfolger Chiangs kündigte nun an, ein weiteres Relikt aus der Bürgerkriegszeit abzuschaffen: Die „Periode der Mobilmachung zur Unterdrückung der kommunistischen Rebellion“ soll für beendet erklärt werden. Damit würden zahlreiche Sondervollmachten und Notbestimmungen endlich außer Kraft gesetzt werden - auch die Greise im Parlament müßten dann zurücktreten.

Im Zuge der Reformen auf dem Festland und auf Taiwan haben sich die Beziehungen entspannt. Im Oktober 1987 erlaubte die Kuomintang erstmals Verwandtenbesuche auf dem Festland. 541.000 Taiwanesen machten sich allein im vergangenen Jahr auf, um endlich die sagenhafte „10.000 Li lange Große Mauer“ mit eigenen Augen zu sehen. Den Onkel auf dem Festland hatten sich viele erfunden. Auch Hunderte von taiwanesischen Journalisten haben in den vergangenen drei Jahren den Fuß ins Feindesland gesetzt. 1988 landete der Flugsportverein „Fliegender Adler“ auf dem Festland - das erste taiwanesische Sportlerteam seit 1949.

Die Regierung in Taipei toleriert solche Annäherungen. Auch die Massaker in Peking, im Juni letzten Jahres, konnten die Entspannung nicht stören. Kürzlich ließen die taiwanesischen Behörden sogar ein Projekt chinesischer Dissidenten scheitern: sie erlaubten nicht, daß das Schiff „Göttin der Demokratie“ eine Radioausrüstung an Bord nahm, die dazu dienen sollten Sendungen für das Festland auszustrahlen.

Mit seinem Verhandlungsangebot brachte Taiwans Präsident Lee nun weitere Bewegung in die heiklen Beziehungen. Allerdings machte er Gespräche davon abhängig, daß Peking öffentlich darauf verzichte, die „Wiedervereinigung“ gewaltsam herbeizuführen und Taiwan nicht länger außenpolitisch isoliere. Die Regierung der Volksrepublik denkt jedoch nicht daran, den Alleinvertretungsanspruch aufzugeben. Die Parole „Ein Land, zwei Regierungen“ Taiwans Antwort auf „Ein Land, zwei Systeme“ - erklärte Peking zum Verrat an der nationalen Sache, weil sie ein unabhängiges Taiwan zur Folge haben müsse.

Pragmatismus statt Wiedervereinigung

In Taiwan fragen sich unterdessen viele, was sie denn von einer Wiedervereinigung hätten, und ihre Antwort lautet schlicht: nichts. Politisch und wirtschaftlich ist der Abstand zwischen beiden Ufern der Taiwanstraße groß: Taiwan hat inzwischen ein Pro-Kopf-Einkommen von 7000 US-Dollar das zehnfache der Volksrepublik. Der Appell Pekings an die Nationalgefühle der ehemaligen Festlandbewohner verfängt spätestens seit dem Massaker auf dem Tienanmen Platz nicht mehr.

So sieht es in China im Augenblick nicht nach einer raschen Wiedervereinigung aus. Doch an die Stelle der kategorischen „Drei Nein“ sind die pragmatischen „Fünf Nein mit Aber“ getreten, die Regierungsberater Tao Baichuan kürzlich formulierte: „Keine Post, aber Briefverkehr; kein Handel, aber Warenverkehr; keine Kontakte, aber Austausch; keine Verhandlungen, aber Gespräche; keine Kompromisse, aber Entspannung.“