Gibt es einen Neuanfang ohne politische Moral?

Aus gegebenem Anlaß: Gedanken (nicht nur) zur Ent-SED-isierung  ■ D E B A T T E

Wie fühlen sich Lehrer, die in den letzten 20 Jahren Kinder im „linken Dogmatismus“ erzogen haben? Wie fühlen sich Schüler, die heute von den gleichen Lehrern weiter unterrichtet werden sollen? Wie fühlen sich Richter, die jahrelang wider besseren Wissens im Namen des sozialistischen Rechts Unrecht gesprochen haben? Wie fühlen sich Bürger einer Stadt, wenn sie Richtern begegnen, deren Urteile Leben und Berufschancen zerstört haben?

Fragen, über die beim schnellen Vereinigen der beiden deutschen Staaten hinweggegangen wird. Ich kenne das schon von 1945 bis '49. Da war ich um die 17. Die großen Nazi- und Kriegsverbrecher wurden von den Alliierten verurteilt und einige von ihnen gehängt. Die Mittleren entnazifizierten sich gegenseitig mit Persil-Scheinen. Einige von ihnen wurden für einige Zeit aus dem Verkehr gezogen, aber am Ende kamen mit dem Paragraphen 131 Richter, Lehrer, Hochschullehrer und Beamte wieder in die Sessel.

Ich will Nazi- und SED-Leute nicht auf eine Stufe stellen, aber es gibt Parallelen zwischen der Nachkriegssituation und der Nach-SED-Zeit. Die Nazi-Bürokratien haben ohne Schwierigkeiten als Wiederaufbaubürokratien funktioniert. Die SED-Bürokratien sind heute dabei, Stützen der Demokratisierung in der DDR zu werden. Auch heute ist schon abzusehen, daß die Bürokratien West sich mit den Bürokratien Ost zusammenschmeißen werden. Selbst die Generäle der Bundeswehr und die Volksarmee mögen sich schon wieder, und sogar Pfarrer Eppelmann wurde binnen kurzem zum Liebhaber von Waffen. Im auswärtigen Dienst der Bundesrepublik sollen auch ehemalige Stasi-Diplomaten ihren Platz finden. Alles läuft nach dem Motto des frühen Degenhardt: Anpacken zupacken - aufbauen - Fresse halten - wer nach Moral fragt, stört!

Trotzdem: Ich will nicht noch einmal viele junge Menschen im Opportunismus des neuen Wiederaufbaus verlieren und erst in zehn bis zwanzig Jahren ein zweites '68. Beim Anfang in der Neuen Deutschen Republik ist Moral unverzichtbar.

Mein Voschlag: Keine bürokratische Lösung - also weder die einfache Übernahme aller DDR-Staatsdiener in den westlichen öffentlichen Dienst, noch ihr totaler Rausschmiß.

Aber die Rückgabe der Entscheidung über die Zukunft aller SED-Diener in öffentlichen Ämtern der DDR an diejenigen, die unter ihnen gelitten haben. Schüler und Eltern in den Schulen sollen selbst über das Verbleiben oder den Rausschmiß ihrer Lehrer entscheiden. Bevor irgendein Richter weiter beschäftigt wird, sollen Bürgerkomitees, und, wenn erforderlich, Gerichte die Urteilspraxis aller Richter überprüfen. Die Religionslehrer des dogmatischen Marxismus -Leninismus an den Universitäten sollen, wenn kein weiterer Bedarf nach ihnen besteht, sich selbst eine neue Arbeits und Lebensperspektive suchen. Als öffentlich bezahlte Professoren sind sie jedenfalls fehl am Platz.

Es ist klar, daß alle diejenigen, die ungerechtfertigterweise entlassen oder vom Studium relegiert worden sind, in die DDR zurückgebeten und bevorzugt wieder eingestellt werden können. Zugleich aber muß allen Lehrer, Richtern und öffentlich Bediensteten als Voraussetzung für ihre völlige Gleichstellung mit ihren westlichen Kollegen ein Zusatz- oder Abendstudium abverlangt werden.

Meine Vorschläge sind nicht uneigennützig. Der erfolgreiche demokratische Neuanfang in der DDR wird, wenn er so vollzogen wird, auch hier für uns Auswirkungen haben. Manchem Lehrer, der nichts weiter als DKP-Mitglied war und der deshalb gehen mußte, wäre geholfen gewesen, wenn Eltern und Schüler ein größeres Gewicht als die Schulbürokratie und die Politiker bei der Beurteilung ihrer pädagogischen Fähigkeiten gehabt hätten. Es ist schon absurd, daß die gleichen Kultusministerien, die gegen DKP-Lehrer mit Berufsverboten Sturm liefen, jetzt ohne weiteres Tausende besonders willfährige SED-Lehrer ohne viel Federlesens den Jugendlichen in der DDR weiter zumuten wollen.

Die Wahl von Richtern - in den USA selbstverständlich wäre für ein klein wenig mehr Gerechtigkeit hier bei uns sicher auch ein Gewinn.

Willi Hoss

Der Autor ist Bundestagsabgeordneter der Grünen.