Ein bärtiger Vorsitzender mit integrativen Fähigkeiten

Der 46jährige Germanist Wolfgang Thierse wurde mit großer Mehrheit zum zweiten und letzten Vorsitzenden der SPD in der DDR gewählt  ■  P O R T R A I T

SPD-Parteivorsitzende wird zugleich der letzte sein. Wolfgang Thierse, 46 Jahre, verheiratet, ein Kind, hat die schwere Aufgabe übernommen, seine Partei „mit Anstand und Würde“, wie es der SPD-Wahlslogan zur Deutschen Einheit zum Anspruch erhebt“, in die Vereinigung mit der großen Schwester im Westen zu führen. Thierse ist Germanist, war früher Schriftsetzer und, wie er sagt, nie in einer anderen Partei. Er ist ein junges SPD-Mitglied. Erst im Januar trat er ein, davor arbeitete er beim Neuen Forum. Von den Genossen in Berlin wurde er schnell als „Talent“ entdeckt und zum Vorsitzenden des Parteirates gewählt. Der 18.März machte ihn zum Volkskammerabgeordneten und stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden. Den Delegierten hat er augenscheinlich gefallen. Als einziger der Kandidaten erhielt er Zwischenbeifall bei seiner Vorstellungsrede, beispielsweise als er sagte, man müsse jetzt auf die Arbeitslosen zugehen. Er forderte den „Wandel in der politischen Kultur“. Die Deutsche Einheit will er mit „aller Leidenschaft, aber auch mit Vernunft“. Willi Brandt merkte auf, als Thierse seine Vorstellungsrede hielt. Dem Ehrenvorsitzenden gefiel offensichtlich der sprachgewandte Intellektuelle. Thierse hat sich in den letzten Monaten vom Gegner einer Koalition mit CDU/DSU zum Befürworter gewandelt: „Wenn ich sehe, da kann man etwas erreichen, dann muß ich die Chanche ergreifen“, beschrieb er seinen eigenen Lernprozeß. Etwas, was ihm KritikerInnen als tigkeit auslegen. Er war in die Koalitionsverhandlungen geschickt worden, um die Positionen der Gegner zu vertreten. Jetzt nehmen sie ihm seine Wandlung zum konstruktiven Befürworter übel. Wolfgang Thierse sieht das anders. Er habe begriffen, sagt er, daß politisch Denken und politisch Handeln ein großer Unterschied ist. Grade deshalb hält er sich für den richtigen Vorsitzenden der jungen SPD. Dieser Lernprozeß spiele sich derzeit im ganzen Land ab, sagt er, er wolle helfen ihn zu verarbeiten. Wenn der Begriff „links“ in diesem Lande nicht von der SED/PDS diskreditiert wäre, meint er, würde er sich selbst als Linker bezeichnen. Auch den Sozialismus als Idee will er nicht abschreiben. Doch zur Zeit traut er anderen Begriffen mehr: Demokratie, Humanismus, Solidarität.

Die Basis hat Thierse gewählt und ihm all ihren Unmut über die schlechten Kommunikationsstrukturen, über die Alleingänge des Vorstandes und die Kritik an der Führung auf die Schultern geladen. Hans-Jochen Vogel erwartet von ihm bis zum Einheitsparteitag eine funktionierende Partei mit durchschaubaren Strukturen und einer azeptablen Mitgliedschaft. An seine „integrativen Fähigkeiten“ (Thierse über Thierse) sind hohe Erwartungen gestellt.

Drei Versprechungen hat der neue Vorsitzende gemacht. Daß er seinen Posten als stellvertretender Parteivorsitzender niederlegt, auch weiterhin ohne Schlips und Kragen geht: „Der Bart bleibt dran.“

Brigitte Fehrle