Wenn die Rote Armee auf dem Alex shoppen geht

■ Auf der einstigen Betonöde mit Weltzeituhr blüht der Schwarzhandel, während im Kaufhaus „Centrum“ Endzeitstimmung herrscht / Die Ware kommt aus West-Berlin, die Kunden aus Osteuropa, Vietnamesen sorgen für Devisenfluß

Berlin/Ost. Der Discount-Stereorecorder steckt noch im Karton und dient als Picknicktisch. Weißbrotbrocken und Würstchen, eingeschweißt in Plastik, werden gereicht. Manuela aus Bulgarien hockt in der Mitte, links und rechts Bruder und Sohn, in der einen Hand das Mittagessen, mit der anderen halten sie potentiellen Kunden Taschenrechner und Kopfhörersets entgegen. „400 Ost“, sagt sie, klopft gegen den Karton. „Made in Japan“. Zum Kurs 1:2,8 kann sie das Geld nachher bei Thran, dem Vietnamesen, in D-Mark umtauschen - schwarz natürlich. 130 Mark hat sie selbst in einem der Westberliner Import-Export-Läden bezahlt. „Zwanzig Mark für mich“, sagt sie. Dafür nimmt Manuela in Kauf, daß die Wahlen in Bulgarien ohne sie stattfinden. In zwei Tagen fahren sie wieder zurück, Manuela muß arbeiten. Die Woche hat sich gelohnt - trotz Polizei- und Zollkontrollen. So störend findet sie die Patrouillen der Vopos gar nicht. „Sie klauen doch alle hier - die Rumänen.“

Der Alex als Zentrum florierenden Schwarzhandels - größer könnte der Kontrast nicht sein zur betonierten Einöde vor dem 9. November. Damals hatten die Kameras der Stasi auf den umliegenden Dächern noch alles im Blick; allein die Weltzeituhr täuschte internationales Flair vor. Jetzt findet hier tatsächlich öffentliches Leben statt - zum Entsetzen der Berliner. Zwei Roma-Mädchen betteln um Geld. Ihre Eltern seien bei der Revolution in Rumänien getötet worden, steht auf den Zetteln, die sie den Leuten entgegenhalten. „Revolution Romania“, wiederholen sie immer wieder und halten die Hand auf, nicht devot bittend, sondern fordernd. „Dreckspack“, raunt einer, der das Geschehen seit einer halben Stunde beobachtet. Rausschmeißen will er sie - nicht nur die Zigeuner, sondern alle, und zwar sofort. „Schau sie dir an, benehmen sich wie zu Hause - und wenn du nichts kaufst, haste ein Messer im Rücken.“

Rund um den Brunnen verkaufen Rumänen, Bulgaren, Polen und Slowaken, was bislang auf dem polnischen Markt in West -Berlin zu kaufen war - Zigaretten, Kassetten, Billigjeans, Kaviardosen, Anstecknadeln und als Schmuckstück einen Kronleuchter made in CSFR für 600 Ostmark. Die alte Zeiss -Kamera dürfte ebenso Sammlerwert haben wie der Fotoapparat sowjetischer Machart. Nur ist der Großteil der Kundschaft eher an der Hi-Fi-Abteilung interessiert: hauptsächlich bulgarische und rumänische Händler, die mit ihren Radiorecordern, Taschenrechnern oder Walkie-Talkies aufgebaut haben.

Die Türken, Stammkunden auf dem Krempelmarkt im Westen, fehlen hier. Statt dessen kaufen vor allem Polen, Russen und Vietnamesen. Weil die Botschaft ihre Reisepässe einkassiert hat, bleibt ihnen die Shoppingtour in den Westteil der Stadt verwehrt.

Thran allerdings kommt nicht zum Kaufen, sondern zum Verdienen hierher. Devisenhandel heißt das Geschäft, das auf dem Alex überwiegend in der Hand von Vietnamesen, Angolanern und Mosambikanern und Rumänen ist. „Alles Mistware“, sagt Thran mit verächtlichem Blick auf das Angebot auf Sitzbänken und Kartons. Mit seiner Ein-Mann-Wechselstube ist der Textilarbeiter aus Hanoi heute gut im Geschäft. Seit vier Jahren arbeitet er in der DDR, teilt sich mit drei Kollegen eine Zwei-Raum-Wohnung in einem der Wohnghettos für „ausländische Arbeitnehmer“. Noch hat die Betriebsleitung keine Entlassung angedroht. Er freut sich auf den ersten Monatslohn in D-Mark nach der Währungsunion - und auf die abendliche Auszählung seines Nebenverdienstes. Es hätte mehr sein können, sagt er, wenn die mosambikanische Konkurrenz nicht andauernd seine Umtauschkurse überbieten würde.

Thorsten Homann (Name von der Redaktion geändert) ist der Mann mit Zukunft im Kaufhaus „Centrum“, eine Perspektive, die ihn sichtlich melancholisch stimmt. In seinem Büro hinter der Sportabteilung gibt es keine Fenster, dafür zwei Alpenfototapeten. Das Feuerzeug mit der Aufschrift DSW auf der Packung „Caro“ zeugt von ersten Westkontakten - eine kleine Aufmerksamkeit des „Deutschen Schutz- und Wachdienstes“. Homann ist Leiter der neuen Kaufhausdetektei. Am Tisch vor den Alpen muß Platz nehmen, wer beim Waren oder Taschendiebstahl in einer der fünf Etagen erwischt wird. Ein Problem, das im real existierenden Sozialismus fast keine Rolle spielte. Nicht, daß DDR-BürgerInnen nicht klauen, „aber die Kundenströme“, sagt Homann, „die waren früher überschaubarer“.

Heute unterbricht eine säuselnde Stimme über Lautsprecher ab und an die einschläfernde Kaufhausmusik, preist Dumpingpreise an und warnt vor Taschendieben. Die Zahl der Ausländer unter den Erwischten sei angestiegen, räumt Homann ein. Aufschluß darüber, wer am meisten klaut, gibt das nicht unbedingt - eher über die Sehschärfe seiner KollegInnen hinter den Verkaufstheken. „Je dunkler die Hautfarbe, desto doller passen die auf.“ Meistens werden Männer erwischt vom 15- bis zum 50jährigen. In der Regel wird in Gruppen gearbeitet. „Einer schnappt zu und gibt das Portemonnaie innerhalb von ein paar Sekunden an den nächsten weiter.“ Beim Anblick der „Täter“ zweifelt Homann dann am Sinn der Volkspolizei. „Eigentlich müßte man die Leute als erstes neu einkleiden.“ Solche Gedanken sind nicht besonders populär in den letzten Tagen der DDR, das weiß er. Wenige Wochen vor der Währungsunion herrscht im „Centrum“ ohnehin Endzeitstimmung. Der Schwarzmarkt vor den Schaufenstern ist geradezu prädestiniert als Zielscheibe für Frust -Aggressionen und Ausländerhaß.

Thran bekommt ihn zu spüren - manchmal auf der Arbeit, manchmal auf der Straße. Zurück nach Hause will er trotzdem nicht. Nicht weil es ihm hier besonders gefällt, „aber Vietnam kannst du vergessen“. Sprach's und bedient einen polnischen Händler, der 300 DDR-Mark eintauschen will, die er gerade eingenommen hat. Dafür ist jetzt ein sowjetischer Offizier glücklicher Besitzer eines Radiorecorders und zweier Walkie-Talkies mit Mickymaus-Emblem. Auf dem Alex wird man auch mit der Roten Armee handelseinig.

Andrea Böhm