DEUTSCHSTOLZE BÜRGER

■ Ralf-Dahrendorf-Renaissance im Theater

Es sind diese glücklichen, verregneten Sonntage, wenn eine geadelte Legende auf die profanen Bretter der Wirklichkeit zurückkehrt, um der kritischen Masse die Angst vor der Nation zu nehmen: Ralf Dahrendorf, zum deutschsprachigen englischen Politikwissenschaftsentertainer konvertiert, plauderte im Rahmen der „Berliner Lektionen“ im Renaissance -Theater dem Matinee-Publikum Mut zu.

Dahrendorf, bis 1988 Mitglied der bundesrepublikanischen FDP, galt über zwei Jahrzehnte als der intellektuelle Pfadfinder im Dschungel gesellschaftlicher Unübersichtlichkeit. So war er es auch, der sich „1968 dem APO-Strategen Rudi Dutschke zu einer improvisierten Diskussion stellte, in der er sich von der außerparlamentarischen Opposition entschieden absetzte“ (Presseinformation).

Und das Leben bestrafte ihn nicht. Während sein Kombinat Opfer einer revolutionären Verbohrtheit wurde, adelte es den Reformeifrigen qua königlichem Dekret: Nach dem Job als Staatssekretär in Walter Scheels Auswärtigem Amt, der Mitgliedschaft in der Europäischen Kommission, dem Vorsitz der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung, der Rektorenschaft am Oxforder Graduierten-Elite-St.-Anthony-College, nach Bundesverdienstkreuz, Groß mit Stern und Schulterband, und 16 Ehrendoktoraten wurde aus Dahrendorf ein Sir Ralf - da der Überflieger neben seinem deutschen auch noch einen englischen Paß besitzt, sah die englische Königin keinen Grund, ihn nicht zu adeln.

So etwas prägt. Wie vom Veranstalter, dem Repräsentanten der Bertelsmann AG, so locker versprochen, geht Dahrendorf „ganz unverkrampft“ weitsichtig, das heißt unbehelligt vom Konkreten, mit dem Angstbegriff „Nation“ um. In bester Geistesadeleloquenz parliert der Sir über seine Berliner Kindheit, die Diskontinuität europäischer Festlandgeschichte, die selbst vom Thatcher-Radikalismus unberührte Kontinuität englischer Geisteshaltung („Als Engländer geboren zu werden, ist kein Zufall“) und über den englischen Nachbarschaftsblick: „49 Prozent der Engländer mögen die Deutschen, nicht aber die Franzosen. 49 Prozent mögen die Franzosen, aber nicht die Deutschen. Und eine kleine radikale Minderheit von zwei Prozent um Margaret Thatcher mag weder die Deutschen noch die Franzosen. So ist es gewährleistet, daß beide Gruppen ihre Mehrheit haben.“

Nachdem er das Publikum derart leichtzüngig eingenebelt hat, geht Dahrendorf daran, seine eigene, differenzierte Adlerperspektive auf die deutsch-deutsche Gestimmtheit kundzutun: Das Jahr 1989 war das Jahr der Revolutionen. Das Jahr steht dagegen im Zeichen der Verlangsamung von Geschichte. Alles wird zäher und schwerer, so daß Erstaunen, Entsetzen und Beunruhigung über den Einigungsprozeß der Deutschen angebracht sind.

Besonders die deutschen Intellektuellen im allgemeinen und Grass, Habermas und Glotz im besonderen hätten ihn in dieser Klarheit gebietenden Geschichtsepoche durch Hilflosigkeit enttäuscht. Grass plädiere für eine deutsche Konföderation, da dieses Deutschland nach Auschwitz keine Legitimation als Nationalstaat mehr besitze. Habermas rede für den Volksentscheid nach Paragraph 146 des Grundgesetzes, da nur so über die materiellen Lasten der Einheit entschieden werden könnte. Und Glotz wolle Deutschland in einem europäischen Bundesstaat aufgelöst sehen.

Dem sei nun erst einmal klärend voranzustellen, daß die BRD die größte Erfolgsstory der deutschen Geschichte überhaupt sei. Sie verfüge über eine funktionierende Demokratie, eine Marktwirtschaft, die das Etikett „sozial“ verdiene, und über eine ausgewogene Verteilung der gesellschaftlichen Kräfte. Damit sei die Bundesrepublik ein Faktor in der verantwortlichen Gemeinschaft zur Förderung des Friedens und folglich ein typisches Einwanderungsland: hier möchten viele Menschen leben, und auch die Bevölkerung der DDR möchte BRD sein.

Daß die BRD nichts mehr mit dem Deutschen Reich von 1870 bis 1945 gemein habe, sei eine augenfällige Tatsache, denn die Nazis selbst hätten das, was deutsch war, gründlich vernichtet. Darüber hinaus sei selbstverständlich ein rationales Begreifen des Auschwitz-Verbrechens nicht möglich. Dieses Unbegreifliche dürfe aber nicht dazu führen, daß man meint, den Völkermord mit einer Konföderation abbüßen zu können. Schließlich handele es sich bei der deutschen Nation nicht um einen gemeingefährlichen Irrenhausinsassen, der seine Wächter in einem klaren Moment zum Wohle aller ersucht, ihn, um Gottes Willen, nicht in die Freiheit zu entlassen.

Symbol dieser Freiheit ist die Deutsche Mark, die eben kein staatlich festgeschriebener Existenzgarant nach östlichem Muster sei, sondern ein auf dem internationalen Kapitalmarkt frei floatender Wert, der durch die Leistung einer Gesellschaft ihr materielles Äquivalent erhalte. In diesem Sinne gelte es, die verfassungsmäßig festgeschriebenen Grundsätze dieser Gesellschaft zu wahren und zu festigen. Beispielhaft seien hier die Amerikaner, für die die Verfassung der Kern ihres Amerikaner-Seins bilde.

Dieser Verfassungspatriotismus plus Radikalliberalismus ruhe nicht im staatenlosen, identitätsgereinigten Raum, sondern in einem sich kritisch reflektierenden Nationaldenken. So müsse man sich fragen, warum die Linke so begeistert Europa entdeckt habe? Ob das nicht eine Verlängerung des von ihr gegeißelten Nationalismus sei, hinter der ein Supermachttraum stehe: Man möchte den beiden Machtblöcken USA und UdSSR mit einer eigenen geschlossenen Formation entgegentreten, in der Deutschland das Japan Europas ist.

Und welches Europa sei da überhaupt gemeint? Das der EG, des Europarats, der Nato, der KSZE? Solange sich auf diesem europäischen Flohmarkt kein selbstverständliches Gesamtgefüge ergeben habe, bleibe nur die Möglichkeit einer eigenen, nationalstaatlichen Position.

Die Angst vor der Nation, der deutschen, doziert Sir Ralf, ist wie die Angst vor dem Sprung: man zögert - was wenig hilfreich ist. Der derzeitige Kasinokapitalismus verlangt nach politischen Entscheidungen, die die Forderungen der sozialen Bewegungen beachten. Gerade weil man eine offene Gesellschaft nicht säuberlich planen kann, wird am Ende der deutsche Nationalstaat stehen.

„Die deutsche Nation soll die Institutionen der Freiheit bauen. Dabei sind Kleinmut und Großmächtigkeit verfehlt. Es ist eine Aufgabe für stolze Bürger.“

Die kritische Masse ist gekippt. Sie erhebt sich. Standing ovations für den Gefühlsmagier aus Oxford. Ein einziges Beben erfüllt den Raum: Deutschland? - find‘ ich gut!

Peter Blie