Das Lebensrecht ist nicht diskutierbar

Wie der Presse zu entnehmen war, wurde am Freitag, den 14.5.90 das Hauptseminar „Probleme der angewandten Ethik“ von Frau Dr.B.Rössler von behinderten und nichtbehinderten Menschen mit der Forderung nach sofortiger Absetzung dieses Seminars gesprengt. Ebenso wurden letztes Jahr in Marburg, Dortmund und Duisburg Veranstaltungen mit und über den australischen Professor Peter Singer und dessen Thesen zur „Euthanasie“ an behinderten, kranken und alten Menschen gestört und verhindert.

Unser Protest richtet sich unter anderem gegen die derzeitigen katastrophalen Vorgänge an wissenschaftlichen Hochschulen der BRD. Mittels unkritischer Diskussion und der Vermittlung der Singerschen Thesen soll hier eine bereits vorhandene eugenische Praxis - Zwangssterilisation, vorgeburtliche Selektion bis hin zur nachgeburtlichen Tötung bestimmter Menschen aufgrund bestimmter Merkmale legitimiert, ihre gesellschaftliche Umsetzung ermöglicht und ausgeweitet werden.

Wir fordern Sie auf, zu unseren Positionen und Forderungen Stellung zu nehmen, die wir im folgenden noch einmal darlegen wollen:

Das Lebensrecht ist nicht diskutierbar!

Es ist nicht möglich, Wissenschaft im Elfenbeinturm unbeeinflußt von gesellschaftlichen Vorkommnissen zu betreiben, denn diese und die neuen technologischen Möglichkeiten bestimmen den inhaltlichen Diskurs an den Universitäten.

Wenn in den Jahren nach 1945 über das Lebensrecht bestimmter Menschen nicht universitär diskutiert wurde, so aufgrund des gegebenen gesellschaftlichen Zustandes: im Rahmen der Entnazifizierung bemühte man sich, bestimmte „Reizthemen“ zu umgehen. Wird die Euthanasiediskussion heute wieder geführt, so ist das nicht als freier gewordene Denkart zu begreifen.

Die sogenannte praktische Ethik ist kein wertfreies und folgenloses Theoriengebilde. Sie schafft die Grundlage zukünftiger Menschenauslese und ist jetzt schon Begründung für bereits praktizierte Morde an behinderten Säuglingen, an kranken und alten Menschen und anderen.

Weder Meinungsfreiheit noch Freiheit von wissenschaftlicher Forschung und Lehre darf sich über die Unverfügbarkeit von Leben erheben. Sie muß genau an diesem Punkt ihre Grenze erfahren, um nicht der Gefahr zu erliegen, eine Tötungswissenschaft zu werden. Eine Diskussion über die Singerschen Thesen, ohne historische Hintergründe und kritische Stellungnahmen zu vermitteln und ohne diese gleichberechtigt in den Seminarverlauf miteinzubeziehen, verunmöglicht eine fundierte Reflexion, da dieser die notwendige Grundlage fehlt.

In dem von Frau Dr. Rössler angebotenenen Seminarplan hatten Geschichte und Kritik keinen Platz. Auch der Anregung, diese nachträglich mit aufzunehmen, wurde nicht entsprochen.

Dringend notwendig ist eine Offenlegung und kritische Hinterfragung der Ursachen und Beweggründe für die Diskussion über Lebensrecht und Lebenswert.

Entgegen der derzeitigen wissenschaftlichen Diskussion über Lebensrecht und Lebenswert, die auf Individualisierung, Verhinderung und letztlich Vernichtung von Leben mit Behinderung abzielt, fordern wir als von der „angewandten Ethik“ potentiell Betroffene die Verbesserung materieller und ideeller Lebensbedingungen aller Menschen zum Gegenstand wissenschaftlicher Diskussion und Praxis zu machen.

In diesem Sinne fordern wir Sie auf, uns im Rahmen Ihrer Möglichkeiten und Pflichten dabei zu unterstützen, daß das oben genannte Seminar sowie alle weiteren ähnlich intendierten Veranstaltungen verhindert beziehungsweise abgesetzt werden. Noch einmal: Wir fordern die sofortige Beendigung des laufenden Seminars sowie die Verhinderung aller weiteren ähnlich intendierten Veranstaltungen.

Krüppelfrauenstammtisch gegen Gen- und Reproduktionstechnik und Eugenik; Fachschaftsinitiative vom lateinamerikanischen Institut; Stadtteilladen Rat und Tat, Wedding; Häuser- und MieterInnenplenum Kreuzberg; Internationalistisches Zentrum; Ambulante Dienste e.V.; die GENervten; Papiertiger; Fuchs -Brucker-Filmproduktion; Medizinerinnen-Frauengruppe

Anmerkung der LeserInnenbriefred.:

Zu diesem Thema erschienen am 6./7.6.90 zwei Debatten -Beiträge auf Seite 10: „Schlupflöcher der Ethik“ von Professor Ernst Tugendhat, und „Stellungskrieg oder Diskussion“ von Götz Aly