Hat das Cleverle sein Pulver verschossen?

Der Landesfürst Baden-Württembergs, Lothar Späth, kommt in Bedrängnis: Pannen, Patzer, Pleiten / Mißglückte Rundfunkfusion, große Bankenkonfusion und Daimlers „guter Stern“ wandert nordostwärts / Das Musterländle im Südwesten verliert an Glanz - eine Bilanz zur Halbzeit der Legislaturperiode  ■  Von Erwin Single

Auch an Spitznamen lassen sich Karrieren verfolgen. Als „Cleverle“ hatte er es vom Neue-Heimat-Manager und CDU -Fraktionsvorsitzenden im Stuttgarter Landtag schließlich zum Ministerpräsidenten gebracht. Vor einem Jahr noch wäre er zu gerne - als „Kronprinz“ des Oggersheimers Helmut Kohl gehandelt - Kanzler der BundesrepublikanerInnen geworden. Aber es reichte nur zum „Brutusle vom Neckar“. Inzwischen haben sie Lothar Späth, mit zwölf Jahren Amtszeit dienstältester Ministerpräsident, wieder umgetauft: „Neverle“ wird er nun genannt. Nicht viel anders wie dem Absteiger des letzten Jahres ergeht es dem Land, das er repräsentiert. Einst als stolzes „Musterländle“ Glanzstück im Reigen der Bundesländer, muß es sich heute als „Plusterländle“ bespötteln lassen.

Seit geraumer Zeit will in der Stuttgarter Landespolitik nichts mehr so richtig klappen. Zur Sommerpause, gleichzeitig „Halbzeit“ der Legislaturperiode, muß sich der Ministerpräsident im Landtag der Opposition stellen, die gespannt darauf wartet, ob der einst stolze Landesvater weiter auf seinen Nieten des letzten Jahres sitzenbleibt. „Nur Pleiten, Pannen und große Sprüche“, bilanziert spitz der SPD-Fraktionsvorsitzende Dieter Spöri. Noch härtere Töne schlug der FDP-Landesvorsitzende Friedrich-Wilhelm Kiel bereits zu Jahresbeginn an: die CDU-Landesregierung lasse sich „nur noch von Arroganz und Vorurteilen leiten„; „nichts, aber auch gar nichts werde mehr bewegt“. „Da wird nur noch vor sich hin gewurstelt“, haut der neugewählte Fraktionsvorsitzende der Grünen, Rezzo Schlauch, in die selbe Kerbe. Hat das Cleverle sein Pulver verschossen?

Tatsächlich kann der reüssierte Landesvater sich nicht mehr in seinen Erfolgen vergangener Jahre sonnen. Die Liste der Mißerfolge ist lang. So scheiterte im Frühjahr endgültig der von Späth seit zwei Jahren gehegte Plan, den Süddeutschen Rundfunk und den Südwestfunk zu einem schwarzen Senderiesen zu fusionieren. Späth mußte klein beigeben und stimmte schließlich den von den Sendern ausgearbeiteten Kooperationsvereinbarungen zu. Klaus von Trotha, Schuster der CDU-eigenen Medienpläne und Frontkämpfer der Fusion, schmiß daraufhin das Handtuch. Dem ebenfalls nach der Handschrift des Medienpolitikers Trotha zusammengebastelten schwäbisch-badischen Wellensalat der Privatfunker droht indes der Ruin. Die gesetzliche Grundlage für die kleinen Hörfunksender muß nivelliert werden - aber der Landesregierung fiel bislang nichts gegen das derzeitige Desaster ein. Auch mißlang der von Späth ambitionierte Versuch, eine Dependence der Privatuniversität Witten -Herdecke nach Mannheim zu holen. Der unglückliche Flirt endete mit einem schlichten Verlust von 1,35 Millionen D -Mark, die das Land abdrücken mußte, um rechtliche Auseinandersetzungen zu vermeiden. Zu guter Letzt mußte die angeschlagene Landesregierung vor wenigen Tagen das Fiasko ihrer hochtrabenden Atomstrompolitik mitansehen: das 20 Jahre lang ohne rechtliche Genehmigung betriebene Uralt -Kernkraftwerk Obrigheim wurde nach einem Verwaltungsgerichtsurteil ausgeknipst; dem ersten Reaktorblock in Neckarwestheim kann das selbe Schicksal ereilen. Am Ende der langen Mißerfolgsliste, die sich noch beliebig fortsetzen ließe, droht schon die nächste Pleite: ein neuerlicher Anlauf Späths, aus einzelnen Sparkassen eine südwestdeutsche Großbank zu formen, zieht sich seit Jahresbeginn ohne Erfolg hin.

Stümpers Banken-Monopoly

Dabei sind gerade die hochtrabenden Banker-Pläne für den Südweststaat von besonderer Bedeutung. Die exportorientierte heimische Wirtschaft verlangt nach einer schlagkräftigen Kapital- und Finanzkasse nicht nur fürs Auslandsgeschäft nach 1992. Auch könnte ein öffentlich-rechtliches Bankhaus Weichen für den notwendigen Strukturwandel hin zum schwachen Dienstleistungssektor im Land stellen, sagen deren Befürworter. Die Grünen wettern dagegen, eine Großbank nehme den kleinen Sparkassen die Butter vom Brot. Doch der geübte Fusionierer Späth hatte auch mit seinem Modellieren im Banken-Monopoly keine glückliche Hand. Zunächst sollten in einer Zweier-Lösung die ohnehin expansionslüsterne Landesgirokasse mit der staatlichen Landeskreditbank zusammengeschlossen werden. Dann tauchte eine Siebener -Lösung mit vier Kreissparkassen um Stuttgart und der Sparkassen-Zentralbank auf, die anschließend niemand vorgeschlagen haben wollte. Es begann ein regelrechter Kuhandel. Die Bankiers drohten mit Fristen oder gingen auf Tauchstation, in der CDU krachte es. Dietmar Schlee, Innenminister und einer der mächtigsten CDU-Provinzfürsten, probte den Aufstand gegen seinen Ministerpräsidenten. Günther Nufer, Vorsitzender der CDU-Kommunalpolitiker, bezeichnete Späths Bankenpläne als „national drittklassig, international jedoch fast eine Lachnummer“. Dann sattelte Späth auf eine große Regionalsparkasse um, ein Modell, das auch die Landes-SPD befürwortete. Doch die letzte, von Späth selbst gesetzte Frist für eine Entscheidung verstrich wieder ergebnislos. Nun soll erst mal ein Gutachten die Vorraussetzungen prüfen - wahrscheinlich durch die Unternehmensberaterfirma McKinsey, die bei ihrer Expertise zur Rundfunkfusion peinlich verrechnet und Jahreszahlen mit zu prognostizierten Einsparungen aufsummiert hatte. Nicht wenige fühlen sich bei der Bankenkonfusion an das Vorspiel vor vier Jahren erinnert: damals war nach langem hin und her ein ähnliches Bankenprojekt Späths am Widerstand der Stadt Stuttgart und ihrer Landesgirokasse gescheitert. Oberbürgermeister Manfred Rommel hatte sich damals als anonymer Autor einer wahren Wildwest-Story betätigt. Titel der Rommelschen Prosa: Höllenfahrt nach Banker-Hill.

Die Landesregierung sieht das selbstverständlich alles anders. Da wird auf die stolzen Erfolge vom neuen Landesabfallgesetz über diverse Wohnungsbauprogramme, Schulreformen, den Ausbau von Fachhochschulen, Universitäten und Forschungszentren bis hin zur Familienpolitik verwiesen, ganz zu schweigen vom Engangement der Baden-Württemberger im DDR-Bezirk Dresden und den europäischen Partnerregionen. Doch viel Mediengeklingel um kleine Veränderungen, um Pflegeversicherung, Kinderbetreuung, Wasserpfennig oder Schulungsangebote für Top-Manager vermag längst nicht mehr darüber hinwegtäuschen, daß die Regierung Späth bei zentralen landespolitischen Aufgaben durch jahreslanges Nichtstun geglänzt hat. Die Umweltpolitik Späths etwa sei eine imposante Negativliste, bilanziert Dieter Spöri und zählt auf: Sondermüllnotstand, gravierende Kapazitätsengpässe beim Hausmüll, unbewältigte Altlasten, Müllvermeidungsstrategien nur auf dem Papier. Für die Misere im Wohnungsbau sei Späth mit einem falschen Kurs bis in diese Legislaturperiode hinein verantwortlich, so Spöri, Späth sei in der Bundes-CDU der Totengräber des sozialen Wohnungsbaus gewesen. „Selbst in der Wirtschafts-, Struktur und Technologiepolitik, wo sich Späth einst seine bundesweite Reputation verdiente, wird nichts mehr bewegt“, sagt Rezzo Schlauch. Das „Feuerwerk“ der Technologiezentren, Industrieparks, Transfereinrichtungen, Kommissionen, Kongresse und Tagungen ist mittlerweile abgebrannt. Aus Späth, dem stolzen Geschäftsführer der Firma Baden -Württemberg, ist ein mittelmäßiger Manager geworden.

Größter Schuldenmacher

„Unser Land ist Spitze“ - diesen alten CDU-Wahlspruch verbreitet Späth bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheit. Und mit ihm rezitierten Industrielle, Wirtschaftsfunktionäre und Politiker geradezu liturgisch die Rekordmarken Baden -Württembergs, als gäbe es einen Wettstreit in Landespatriotismus und Meistertiteln: das reichste Bundesland, das höchste Bruttosozialprodukt aller Flächenstaaten, die niedrigste Arbeitslosenquote, den größten Exportanteil, die solidesten Haushaltsfinanzen.

Daß inzwischen bei einzelnen Daten im statistischen Bild Bayern, Hessen oder das Ruhrgebiet am Südweststaat vorbeigezogen sind, ist nicht mehr nur ein Schönheitsfehler. Seit geraumer Zeit zeigen sich Schatten auf dem glänzenden Bild des einstigen ökonomischen Modellandes. Im vergangenen Jahr stand Bayern mit rund fünf Prozent beim Wirtschaftswachstum an der Spitze; Baden-Württemberg landete lediglich hinter Niedersachsen und Hessen mit 3,7 Prozent knapp über dem Bundesdurchschnitt. Sogar im Maschinenbau und der Elektrotechnik, den Paradezweigen der südwestdeutschen Wirtschaft, blieben die Zuwachsraten hinter denen des Bundes zurück. Beim Finanzausgleich der Bundesländer, einem Indikator für die Steuerkraft, zu dem Baden-Württemberg in den vergangenen Jahren immer rund zwei Drittel beigesteuert hatte, sackte der Anteil 1989 auf rund 41 Prozent ab. Die Steuerquellen sprudeln nicht mehr wie früher. Das bringt auch die sonst so sparsamen Schwaben in Verlegenheit, schließlich will ein Super-Haushalt von 45 Milliarden finanziert sein. Als Ausweg bleibt nur die Neuverschuldung. Seit Späths Amtsantritt wuchs der Schuldenberg um mehr als das Doppelte auf 30 Milliarden Mark an, was dem Ministerpräsiedenten von seinem SPD-Kontrahenten Spöri den Vorwurf einbrachte, er sei der „größte Schuldenmacher in der Geschichte des Landes“.

In Reklamepäckchen für internationale Industrieausstellungen hatten die selbstbewußten Stuttgarter immer mit Fingern auf die regionalen Differenzen Westdeutschlands gezeigt: Das Ländle wurde über den Klee gelobt, für das Ruhrgebiet dagegen wahre Horrorszenarien entworfen. Doch dem Südwesten steht eine Sturkturkrise erst noch ins Haus, befürchten nicht nur die Gewerkschaften und Strukturforscher. Die fehlende wirtschaftliche Dynamik gerade im Mittleren Neckarraum wurde auch in der Bankendebatte zu nächtlicher Stunde im Landtag von allen Seiten bestätigt. Dort herrscht eine Monostruktur im produzierenden Gewerbe, hauptsächlich geprägt durch den Fahrzeugbau. Die Region um Stuttgart, das Herz des Südweststaats, bildet verglichen mit den wichtigsten Wirtschaftszentren in den zukunftsträchtigen Branchen des Dienstleistungsbereichs lediglich das Schlußlicht. Wenn unter dem Druck der Weltmarktkonkurrenz und zurückgehender Binnennachfrage die Montanregion um Stuttgart in die Krise schlittern sollte, drohen nicht nur Massenentlassungen bei Mercedes, Porsche oder Audi und den mittelständischen Zulieferbetrieben. Allein im Mittleren Neckarraum, so prognostizierte eine Studie, seien über 30.000 Arbeitsplätze in Gefahr; bis zur Jahrtausendwende sollen bis zu 30 Prozent aller baden-württembergischen Metallarbeitsplätze verschwunden sein. Es bleibt lediglich die Hoffnung, daß der Verlust durch einen stärkeren Zuwachs in den Dienstleistungen schneller wettgemacht werden kann. Seit längerem beklagen sich Industrielle wie DIHT-Präsident Hans -Peter Stihl bitter über die schlechte Infrastruktur. Zudem wird befürchtet, durch die deutschlandpolitische Entwicklung könne dem Bundesland eine Randlage drohen. Und spätestens seit die Daimler-Benz-Konzernleitung vor kurzem mitteilte, sie werde mit ihrem zukunfsträchtigsten Unternehmensbereich der Holding, der „Inter-Services AG“, nach Berlin gehen, schrillen in Stuttgart die Alarmglocken.

Der ambitionierte Kunstsponsor Späth schwebt unterdessen in anderen Sphären: der Späthmoderne. Er will erst mal das ganze Land mit „Kunscht & Kultur“ überziehen, weiß er doch, daß High-Tech und High-Culture zusammengehören und sich die kreative Angestelltenkaste nicht allein mit Württemberger Trollinger begnügt. Doch Späth wird vorgeworfen, er habe ein Verhältnis zur Kultur wie ein Aktionär zur Börse: nämlich späthabsolutistisch mit Prestigeobjekten klotzen.

Das Neverle zimmert Mini-EG

Doch geschäftig wie immer versucht Späth seinen Traum von Europa wahrzumachen. Nach seiner Abwahl aus dem CDU -Präsidium in Bremen hatte Späth lauthals verkündet, gegen den Zentralismus müsse nun das Europa der Regionen geschaffen werden. Auf dem Stockacher Parteitag im April legte er ein Konzept europäischer Regionalpartnerschaften als künftiges Modell der Zusammenarbeit vor und verkündete, Baden-Württemberg könne in Deutschland und Europa als beipielhafte und zukunftsweisende Modellregion dienen. Für die Idee seiner „kleinen EG“ mit der Hauptstadt Stuttgart hat sich Visionär Späth bereits andere innovative Regionen Europas ausgeguckt: das altdeutsche Sachsen, die norditalienische Lombardei, Spaniens Katalonien, die Rhone -Alpes um Lyon oder Wales. Aber auch nach dem über dem Atlantik liegenden kanadische Provinz Ontario hat Späth seine Fühler ausgestreckt. Mit Kongressen über Wirtschaft, Umwelt, Verkehr und Wissenschaft sollen sich die Partnerregionen gemeinsam in den Binnenmarkt einstimmen. Alles nur Palaver, höhnt es dazu von Kritikern, tatsächlich seien in Späths Mini-EG erst knapp zwei Millionen D-Mark geflossen - für Papiere, Absichtserklärungen und Fototermin -Reisen.

Schon lange ist es kein Geheimnis mehr, daß sich der Ministerpräsident wenig um die landespolitischen Aufgaben schert - ganz im Gegensatz zu seiner Ankündigung nach der Bremer Niederlage. Gerade seine hektische Reisetätigkeit um den Erdball herum, der sich Späth mit großem Gefolge seit Monaten widmet, läßt die Opposition spötteln: Lothar Kimberle auf der Flucht. Der reisende Außenminister des Handelsweltmeisters Baden-Württemberg will für die heimische Wirtschaft internationale Kontakte ankurbeln. Doch die bodenständigen Mittelständler verlieren die Lust am Mitreisen, ist zu hören, immer mehr Plätze im Troß des Industrie-Schirmherrn bleiben leer.

Auch in der eigenen Partei wachsen inzwischen die Zweifel an Späth. Seine Unlust an der Landespolitik zieht Unmut auf sich. Zudem wird befürchtet, Späth könnte in zwei Jahren das Schicksal Albrechts teilen. Seit Späths Amtsübernahme 1978 von dem „furchtbaren Juristen“ Hans Filbinger, ist die CDU von 56,7 auf 49 Prozent abgesackt. Der innerparteiliche Solidaritätseffekt nach Bremen bröckelt. Der bisher um Späth nicht recht ernstgenommene „Zwergenaufstand“ bei den Bankenplänen kann sich leicht ausweiten, wenn Erfolge weiterhin Mangelware bleiben. Längst nicht mehr ist das Späthsche Handlanger-Kabinett, in dem der Landesfürst die wichtigen Dinge alleine macht, mit allem einverstanden. Innenminister Schlee dürfte sich beispielsweise nicht mehr von Späth abkanzeln lassen wie bei seinen Plänen von Aussiedlerstädten. Und Späth mußte im Februar erleben, wie wesentliche Teile seiner geplanten Regierungserklärung zur Deutschlandpolitik als Kohl-Vorschläge in der Zeitung standen. Gerhard Mayer-Vorfelder hatte sie „um des lieben Friedens Willen“ zwischen Stuttgart und Bonn ausgeplaudert.

Seit Späth auf des Kanzlers Betreiben aus dem Päsidium kippte, für das er nach eigenem Bekunden in diesem Jahr wieder kandidieren will, ist er in der Bonner Union weitgehend abgemeldet. Scheinbar noch immer eingeschnappt, bleibt er den Sitzungen des obersten Parteigremiums fern obwohl er als CDU-Ministerpräsident kooptiertes Mitglied ist. Die CDU-Landesgruppe in Bonn hat die „Abstinenz“ Späths bereits hefig beklagt. Ob und wann sich das gestörte Verhältnis wieder normalisiert, ist ungewiß. Im Bundesrat jedoch könnte Späth eine neue Rolle zuwachsen: Vermittler zur SPD-Mehrheit.

Aber was präsentiert Späth im Ländle zur Halbzeitbilanz? Selbst eine Kabinettsreform, über die seit Wochen als letzte Rettungsaktion spekuliert wird, scheint unwahrscheinlich. Doch was meint der angekratzte Landespolitiker Späth? „Ich bin 1992 gerne wieder Spitzenkandidat.“