Die DDR-Forschung wird ihren Gegenstand überleben

DDR-Forschertagung zum ersten Mal mit starker Beteiligung des Objektes wissenschaftlicher Begierde/ Statt Euphorie Verunsicherung über die wissenschaftliche Zukunft Es dominierte Sorge ob der überstürzten Vereinigung / „Transitionsforschung“ und Neuschreibung der DDR-Geschichte als zukünftige Forschungsschwerpunkte  ■  Von Walter Süß

Bonn-Röttgen (taz) - Aus der Sicht „von Bevölkerung und politischer Klasse“ in der Bundesrepublik „erscheint die DDR quasi als herrenloses Gebilde... Dies fördert wenigstens teilweise eine Art Beute-Stimmung. Die Beute fällt einem automatisch zu. Die Regierung aber drängt, weil sie vielfältige Infektionsgefahren fürchtet, wenn der Kadaver erst einmal verwest“, so Johannes Kuppe vom Gesamtdeutschen Institut in Bonn. „Was aber“, hielt ihm Helmut Hanke, Professor an der Hochschule für Film und Fernsehen der DDR in Potsdam-Babelsberg entgegen, „wenn das ins Netz gegangene Wild den Jäger nur täuscht?“ - „Dann hebt der Jäger die Flinte zum zweiten Mal und dann ist es wirklich tot.“

So plastisch war die Sprache auf der 23. DDR -Forschertagung, die in der vergangenen Woche in Bonn -Röttgen unter der Überschrift „Die DDR auf dem Weg zur deutschen Einheit“ stattfand, nur in Ausnahmefällen. Das immanente Gefälle, das in dieser Metapher zum Ausdruck kommt, bestimmte allerdings die ganze Tagung. Das geschah, obwohl die DDR-Seite zum ersten Mal mit zwei Dutzend TeilnehmerInnen vertreten war. Ihre Rolle ist nicht eindeutig zu umschreiben: Sie waren als wissenschaftliche Kollegen eingeladen worden, wurden als Zeitzeugen betrachtet und von manchen - keineswegs allen - bundesdeutschen Teilnehmern als Vertreter eines zum Untergang verurteilten Staatswesens und Verlierer im „Kalten Bürgerkrieg“ behandelt.

Der Zusammenbruch der DDR hat auch die bundesdeutsche DDR -Forschung überrascht. Das hätte Grund genug sein müssen, die eigene Arbeit selbstkritisch zu reflektieren. Doch - wie Uwe Matthes von der Karl-Marx-Universität Leipzig zu Recht monierte - gab es nur „ganz dünne Ansätze zu theoretischer und methodischer Selbstkritik“. Nur Elemente einer solchen, Kritik wurden hörbar: Keiner der beiden in der Forschung dominierenden Ansätze, der Industriegesellschaftsansatz und die Totalitarismustheorie, war, so Gert-Joachim Glaeßner von der FU Berlin, geeignet, die Dynamik der Krise und den Zusammenbruch zu prognostizieren. Die innere Stabilität der SED war überschätzt, der „Staatssicherheit“ zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden.

Doch vielleicht ist die Forderung an die DDR-Forschung, sie hätte den Umbruch vorhersagen müssen, ohnehin überzogen. Sozialwissenschaftliche Prognostik war gegenüber Revolutionen meist hilflos. Zwar lassen sich einzelne Elemente der vorrevolutionären Krise aufspüren, doch ihre Bündelung in der revolutionären Krise selbst und die mit ihr verbundenen qualitativen Veränderungen im Bewußtsein breiter Bevölkerungsmassen entziehen sich wissenschaftlich begründeter Vorhersage.

So wäre auch von der DDR-Forschung allein zu verlangen, daß sie die wesentlichen Krisenelemente erfaßt hätte. Auf den Gedanken, den Berichtsband der vorjährigen Tagung einmal unter diesem Aspekt durchzusehen, kam seltsamerweise keiner der Referenten. Dabei sind dort ökonomische, gesellschaftliche und politische Krisenelemente ebenso zu finden, wie wichtige Akteure der Herbstrevolution. Beispielsweise Wolfgang Templin - der damals als Gast anwesend war und seinerzeit referierte: „Wenn der wachsende Druck aus der Bevölkerung, die Initiativen der unabhängigen Bewegung und die verborgenen Reformkräfte der Partei endlich zueinander finden, wird die DDR ihren eigenen Weg zur Demokratie gehen.“

Was allerdings die Öffnung der ungarischen Grenze zwei Wochen vor der letzten Tagung für die Zukunft der DDR bedeutete, blieb den Referenten damals verborgen.

Wenn diese Veranstaltung in „Frankreich stattgefunden hätte“ - so ein französischer Teilnehmer - „dann wären wir mit dem gallischen Hahn einmarschiert und hätten die Marseillaise gesungen.“ Von solcher Euphorie waren die deutschen Teilnehmer aus Ost und West weit entfernt. Bei ihnen dominierte die Sorge über die Folgen der überstürzten Vereinigung. In der Auseinandersetzung zwischen „Schocktherapeuten und Gradualisten“ haben erstere aus politischen Gründen die Oberhand behalten, so Friedrich Haffner, Professor für Volkswirtschaft an der Universität München. „Aus wissenschaftlichen Gründen“ sei das „extrem unerfreulich“. Die Furcht, daß die Schocktherapie zum Kollaps auch eigentlich überlebensfähiger Unternehmen führt und zumindest kurzfristig enorme soziale Probleme schaffen wird, war fast allgemein. Schon im Juli wird es nach Hochrechnungen des Arbeitslosenverbandes der DDR - so dessen Präsident Klaus Grehn - 600.000 Kündigungen geben. Ulrike Poppe, Sprecherin der Bürgerbewegung „Demokratie jetzt“, war keineswegs die einzige, die angesichts solcher Perspektiven die Möglichkeit eines „heißen Herbstes“ an die Wand malte.

Die kulturellen und politischen Verwerfungen, die sich aus Form und Tempo der Vereinigung ergeben, wurden auf der Tagung nur ansatzweise thematisiert. Den brillantesten Beitrag zu dieser Frage hielt Karl Schlögel, der über „Berlin in der deutschen und europäischen Entwicklung“ sprach. Er lenkte die Aufmerksamkeit auf die „Wiederkehr der Städte“ als Ausdruck der Zivilgesellschaft, auf die veränderte Stellung Berlins gegenüber dem Osten und die Gefahr neuerlicher Abschottung. Vor allem aber wandte er sich gegen „die optische Täuschung, daß die Vereinigung Deutschlands von Kabinetten gemacht wird. „Das ist falsch: Die Arbeit tun andere.“

Wer glaubt, daß dies die letzte „DDR-Forschertagung“ war, irrt wahrscheinlich. Dieser Forschungszweig wird seinen Gegenstand überleben, auch wenn sein Namen sich ändern wird und die einzelnen DDR-WissenschaftlerInnen sich wieder stärker in ihren jeweiligen Fachdisziplinen verankern werden.

Eine ganze Fülle neuer Möglichkeiten und Aufgaben steht offen. Fast alle Quellen sind nun zugänglich, deshalb kann und muß die Geschichte der DDR neu geschrieben werden. Die westliche sozialwissenschaftliche Forschung über die DDR kann jetzt überhaupt erst beginnen, vor Ort mit Methoden der empirischen Sozialforschung zu arbeiten.

In allen diesen Bereichen wird es zu Ost-West -Kooperationsprojekten kommen, deren erste bereits in die Wege geleitet sind. Der eigentliche Schlüsselbegriff aber heißt „Transitionsforschung“. Gemeint ist damit die sozialwissenschaftliche Erforschung der Transformation der DDR - und der BRD - zu einem gesamtdeutschen Staatswesen und der damit einhergehenden gesellschaftlichen und kulturellen Prozesse und Brüche. Das Thema der nächsten DDR -Forschertagung taucht diese Probleme in ein eher optimistisches Licht: „Neue deutsche Gründerjahre“. Vielleicht wird es auf dieser Tagung auch gelingen, nicht nur über die DDR zu reden, sondern mit den DDR-KollegInnen tatsächlich in die wissenschaftliche Diskussion zu kommen.

Hier haben beide Seiten noch einiges zu lernen. Dabei dürfte es leichter sein, nach anfänglichem Staunen den Mund aufzumachen, als sich von dem eingeschliffenen Glauben an die eigene Überlegenheit zu befreien. Aber bei diesem Lernprozeß werden die DDR-KollegInnen künftig schon kräftig nachhelfen.