Hamlet oder Die Hofneurotiker

■ Tabori inszeniert Hamlet bei den Wiener Festwochen

Tanja Neumann

„Was ist ein Mensch,

Wenn sein Erlös, sein höchstes Gut

Nur Schlaf und Essen ist?“ Hamlet, IV,

I.

Trauermänner tragen singend den Leichnam des alten Hamlet herein und waschen ihn. Hamlet betritt den weißen nackten Raum, kniet bei seinem Vater nieder und spricht: Sein oder Nichtsein dann, das ist hier die Frage. In der Tat, so neben einem Toten gesprochen, macht dieser Monolog einen Sinn. Sterben, schlafen, vielleicht auch träumen: da zeigt sich der Unterschied.

Sein oder Nichtsein, so an den Anfang genommen (sonst im dritten Akt), gibt auch das Thema der Inszenierung an. Das (Nicht-)Vergessen des Todes und: der Alte oder ich. Aber das weiß Hamlet (noch) nicht. Denn mit dem Tod des Vaters und dessen eigensinnigem Aufrag, ihn zu rächen, beginnt für Hamlet ein Kampf, bei dem er unterliegt. Die Rache zwingt zur Imitation eines Verbrechens, und sie zwingt den Sohn zu tun, was der Vater von ihm verlangt (und damit selbst nur Imitation zu sein). Sonst droht Verdammnis, denn Hamlet hat den Alten längst in sich: ob tot oder lebendig, wütet der wie ein Maulwurf im Sohn. So ist es Hamlet selbst, der jenes „Schwört!“ grölt, das aus der Tiefe kommt. Hamlet sitzt in der Klemme: Er will und er will nicht, er liebt Worte, keine Taten, aber Hamlet sen. kommt persönlich, schlurft in Pantoffeln und Morgenmantel durch die Säle des Palastes und zeigt dem Sohn, wie ein Schwert (!) zu führen ist.

Taboris Rebellenprinz Hamlet (Ursula Höpfner) ist ein puritanischer Philosophiestudent in schwarzen Jeans und knapper Lederjacke, er hat die wittenbergische Moral mit Löffeln gefressen und seinen Montaigne noch nicht ganz verdaut. Ihn ekelt am Hof so ziemlich alles, und in seinen Augen sind Mutter Gertrude (Silvia Fenz), Onkel und neuerdings Stiefvater Claudius (Klaus Fischer), Polonius (Ulrich Hoffmann), Laertes (Rainer Frieb) und wie sie alle heißen, Tiere, die saufen, fressen, huren. Und so kommen sie herein, gleich nach der Trauerszene, bei schräger, lauter Walzermusik, mit Tiermasken, johlend, und stürzen sich auf ein Büffet: „Das Gebackene vom Leichenschmaus gab kalte Hochzeitsschüsseln.“

Dänemarks Hofstaat ist eine Party, eine zynische Wohlstandsgesellschafft, die, in Abendkleidern und Smoking, mit Whisky und Fasan, nicht nur ihre Unfähigkeit zu trauern mit der unsrigen gemein hat: „Die Vernunft“, so der neue König Claudius, „die immer vom Tod der Väter spricht: das muß so sein“, die soll sich Hamlet doch zu eigen machen, statt übermäßig lang in Schwarz herumzulaufen.

Leicht gesagt: denn Hamlet sen. (Fritz von Friedl) kommt, ungebeten wie das Unheimliche und Verdrängte, die Leiche im Keller einer jeden Gemeinschaft, immer wieder. Er wandert in seinem Haus herum, ein blasser Mann, ein richtiger Mensch, und er nimmt Hamlet in seine Arme. II.

Hamlet ist eine Wortmaschine, alles muß er kommentieren, ständig muß er Witze reißen oder Vorträge über Sein und Schein halten. Er rationalisiert: und trifft sich selbst. Im Krimi Hamlet wird jeder von jedem bespitzelt und verraten. Polonius, verzweifelt brutal, verkauft sein Tocher Ophelia (Vivien Dybal), eine naiv-hysterische, traurige Gestalt, damit die Eltern herausbekommen, warum Hamlet verrückt geworden ist: oder besser, ob Hamlet weiß, daß Claudius bei Vaters Tod ein bißchen nachgeholfen hat. Diese Liebesszene im täuschend intimen Kerzenlicht ist eine Staatsszene, sie ist häßlich schief, voll falscher Töne, denn Hamlet weiß, daß draußen alle lauschen.

Die Lust hat ihn süchtig gemacht, abhängig und verwirrt, und dafür haßt er sich selbst. Diesen Haß kotzt er später bei seiner Mutter aus; eifersüchtig erniedrigt er sie und seinen Rivalen Claudius: „Laßt wieder Euch vom aufgedunsnen König / Ins Bett locken, laßt lüstern Euch die Wangen / Kneifen und laßt ihn Euch sein Mäuschen nennen“, mit stinkenden Küssen usf. Ein prüder Typ, dieser Hamlet, und typisch für die Prüden redet er ununterbrochen von dem Einen... III.

Hamlet ist ein Stück übers Theater, übers Schauspielern. Darin liegt sein Witz, seine Komik: in dieser (Un -)Möglichkeit, mit Mord und Totschlag, Verrat und Gefühlskälte umzugehen.

Alle müssen eine Rolle spielen, alle sind scharf auf die Macht, die Durchsetzung ihrer Weltanschauung, und sie alle sind genervt vom Spielen. Also übertreiben sie ununterbrochen, wenn sie nicht gerade unglaublich träge spielen, wie mit halber Kraft. Das ist manchmal ermüdend, auch das Schrille, aber wie sagt Hamlet über Polonius: „Er ist für kurze Possen oder Zoten, sonst schläft er ein.“

Auch Hamlet will nicht immer spielen, er ist zu irre, um (den Irren) gut zu spielen, und Ursula Höpfner setzt dem noch eins drauf: sie zeigt, daß sie das nicht mehr will

-diese blöden Monologe, hundertfach gesprochen in bald vier Jahrhunderten Shakespeare, noch einmal mit Emphase. Grinsend fällt sie am Ende, sterbend, in Horatios (Günter Barton) Arme, als grinste sie mit den vielen Hamlets oder über sie: „Erzähl, wie's mir erging.“ IV.

Die Totengräberszene. In blauen Overalls die einzigen Werktätigen in diesem Stück, sie wienern und machen Anspielungen, über die das Wiener Publikum lacht. Sie kommen am Ende zum zweiten Mal, Hamlet hat aus Versehen Polonius getötet, Claudius hat ihn in die Verbannung abserviert. Alles ist faul im Staate Dänemark. Gertrude und Claudius (als Ehepaar Ceausescu) leiden an Realitätsverlust, und Ophelia ist ungesehen ins Wasser gegangen (in dessen Grün sie schon bei ihrem ersten Auftritt stand; aber Dänemark ist ohnehin eine Art Aquarium, mit Dauerregen und Gewitter). Nach einem Gemetzel am Büffet, bei dem in Zeitlupe Gertrude das Gift für Hamlet getrunken, Hamlet den Laertes, Claudius und Hamlet sich gegenseitig umgebracht haben, sind alle Schauspieler wie Fremde und Tote in einem langsamen Gang auf der Bühne umhergewandelt, bevor sie sich darniedergelegt haben. Fortinbras kommt, steigt über sie hinweg, hält sich die Nase zu und verschwindet kopfschüttelnd. Da kommen ganz unverhofft die beiden Totengräber noch einmal mit ihrer Schubkarre, sehen den Leichenhaufen, und der eine von ihnen stöhnt: oich.

William Shakespeare: Hamlet. Regie: George Tabori, Bühne: Luise Czerwonatis, Musik: Sergeij Dreznin. - Theater der Kreis in der Porzellangasse, Wien.