Jeder gegen jeden im Kampf gegen die Mafia

Palermos Ex-Bürgermeister Orlando gegen Untersuchungsrichter Falcone / Verzögert die Justiz die Ermittlungen? / Die Antimafiabewegung ist zerstritten, die Clans werden dreister / „40 Prozent des Territoriums werden nicht mehr vom Staat beherrscht“ / Staatspräsident Cossiga „versteht überhaupt nichts mehr“  ■  Aus Rom Werner Raith

Anfang Mai erteilten Palermos Wähler den notorisch mafiosen Kandidaten bei der Kommunalwahl eine Lektion, die „bei jedem ehrbaren Staatsbürger nur Freude hervorrufen“ konnte - das jedenfalls war die Meinung von Leoluca Orlando, jenes Politikers, der selbst zu einer Art Symbol für eine erneuerte Administration, saubere Amtsführung und Abkehr vom Parteiengemauschel geworden war. Doch nun scheint ausgerechnet Orlando im Mittelpunkt einer schweren Krise in den Anstrengungen der antimafiosen Kräfte Italiens zu stehen. Vier Jahre lang hatte der 43jährige Rechtsprofessor und Ex-Militante der 68er-Bewegung an der Spitze einer Koalition aus nichtkorrupten Christdemokraten, Kommunisten, Linksunabhängigen, Sozialdemokraten, Grünen und Bürgerinitiativen gestanden, bis er - durch höchstpersönliche Initiative seines Partei„freundes“ Ministerpräsident Giulio Andreotti - im Januar gestürzt wurde.

Nach seinem beispiellosen Wahlerfolg (mehr als 70.000 Stimmen, der höchste Stimmenanteil für einen Kandidaten, der je bei den Kommunalwahlen erreicht wurde) hat Orlando nun zu einem Rundumschlag ausgeholt, der, nach Meinung fast aller Kommentatoren, der ohnehin durch interne Spannungen geschwächten Antimafiabewegung des Landes den Rest geben könnte.

Liegt die Wahrheit

im Panzerschrank?

Hart kritisiert hat Orlando - unter anderem auf der Turiner Buchmesse und in einer Sendung des 3.RAI-Fernsehprogramms nicht nur die Bonzen seiner eigenen Partei, von Andreotti, der seit eh und je gerne mit mafiaverdächtigen Potentaten kungelt, bis zum verantwortungsscheuen DC-Chef Arnaldo Forlani, sondern auch zahme Kirchenvertreter und lahme Journalisten. Was Italiens Mächtige und alle politisch Interessierten jedoch völlig überraschte, war die erstmals klar formulierte Behauptung, daß sich auch die hochverdienten Antimafia-Fahnder der Sonderkommission um den Untersuchungsrichter Giovanni Falcone nicht mehr mit der nötigen Energie an den Abschluß zahlreicher Verfahren machten - und zwar vor allem dort, wo es um die Verbindungen zwischen Mafia-Clans und Politikern und Inhabern öffentlicher Ämter geht. „Die Lösung einer ganzen Reihe von Mordfällen, vom Regionalministerpräsidenten Piersanti Mattarella über den sizilianischen PCI-Vorsitzenden Pio La Torre bis zum Ex-Bürgermeister Guiseppe Insalaco, liegt in den Panzerschränken der Ermittler“, sagte Orlando, „aber derzeit versehen sie solche Fälle lieber mit dem Vermerk 'ungelöst‘ oder 'unlösbar‘ und schließen sie im Aktenkeller weg.“

Giovanni Falcone ist bislang der einzige gewitzte und erfolgreiche Mafia-Ermittler der Nation - die zahlreichen Versuche, ihn (mal durch Intrige, mal durch Dynamit) zu Fall zu bringen, haben seinen Ruhm noch gemehrt. Gemeinhin wird er zu den engeren Freunden Orlandos gerechnet, doch dessen Anwürfe erwischten ihn nun offenbar auf dem falschen Bein. Aus dem oberitalienischen Gorizia, wo er sich gerade wieder einmal auf einem Antidrogenkongreß feiern ließ, schoß er zurück: „Nichts als ketzerische Reden und der Versuch, mit Hilfe der Justiz Politik zu machen, und genau das lehnen wir ab. Wenn Orlando etwas weiß, dann soll er Roß und Reiter nennen, nicht allgemeine Anklagen loslassen.“ Solche Sprüche hat der Soziologe und Antimafia-Spezialist Nando dalla Chiesa (der Sohn des 1982 ermordeten Präfekten Carlo Alberto dalla Chiesa) schon vor Jahren in einer Analyse als „typische Abwehrformel des schlechten Gewissens“ denunziert: statt den Vorwürfen nachzugehen und sie zu entkräften (zum Beispiel indem man die zitierten Panzerschränke aufmacht und zeigt, was drin ist), fordert man den Ankläger auf, seine Behauptung zu beweisen - natürlich ohne ihm das Material zugänglich zu machen.

Das Ende der

Antimafiabewegung...

Orlandos Attacke könnte die Antimafiabewegung tödlich treffen. Ihre verschiedenen Fraktionen liegen schon seit Jahren in heftigem Streit: Die „Frauen gegen die Mafia“ legen sich mit der Gewerkschaft an, das „Centro Impastato“ der Democrazia proletaria mosert gegen die Kommunisten, die militanten Jesuiten des „Centro Pedro Arrupe“ um Padre Bartolomeo Sorge und Ennio Pintacuda werden von Kardinal Salvatore Pappalardo gerüffelt (der einst auch couragierter aufgetreten ist).

Wenn jemand in der Lage war, die Streitenden wenigstens zeitweise zu einen, so waren es Falcone und Orlando: als der Oberermittler durch unselige Beschlüsse des Obersten Richterrates und Machenschaften der seit einiger Zeit mafianahen Sozialisten (die den Justizminister stellen) entmachtet werden sollte, hagelte es Proteste auf den „Palazzo“, die römische Machtzentrale. Und was Orlando angeht: seine 70.000 Stimmen bei der Kommunalwahl muß man vor allem im Vergleich mit dem Abschneiden des Kandidaten auf Platz zwei der Liste sehen, einem engen Vertrauten Andreottis. Die Palermitaner ließen keinen Zweifel, wen sie als Stadtoberhaupt wünschen - der Mann des Ministerpräsidenten konnte nicht einmal 14.000 Kreuzchen verbuchen.

Daß nun auch Orlando und Falcone in Streit geraten sind, wird dem „ehrbaren Palermo“ („Palermo onesta“ nennen sich die mafiageschädigten Bürger, in Abgrenzung zu den „onorati“, den „geehrten“ Bossen) sicherlich den letzten Halt rauben.

... oder eine neue

Runde im Kampf?

Dennoch könnte Orlando mit seiner Invektive letztlich bewirken, daß eine neue Runde im Antimafiakampf eingeleitet wird und die Auseinandersetzung mit der tödlichen Macht der Clans, die längst im internationalen Untergrund der Waffen-, Drogen- und Geldschieber fest etabliert sind, eine neue Qualität erhält. Denn zweierlei steht außer Zweifel: Trotz mancher erfreulicher Erfolge der Ermittler gegen einige Clans - seit 1986 wurden mehr als 500 Bandenmitglieder verurteilt, mehrere Dutzend Flüchtige gestellt - ist bisher der wirklich große Schlag gegen die schleichende und offene Übernahme der Territorialgewalt durch die Banden und ihre Bosse nicht gelungen. Und trotz zahlreicher Ankündigungen ist bisher nicht eines der großen politischen Delikte wirklich aufgeklärt oder auch nur der Hintergrund aufgehellt worden. Innenminister Antonio Gava, ein Politiker aus Neapel, der selbst mit der Camorra in Verbindung gebracht wird, mußte bereits vor einem Jahr kleinlaut zugeben, daß „nahezu vierzig Prozent des nationalen Territoriums nicht mehr vom Staat und seinem Machtmonopol beherrscht wird“.

Das ist durch zahlreiche Ereignisse drastisch belegt: mit mehr als 500 Morden in der Campania, in Calabrien, Apulien und Sizilien wurde bereits im Mai 1990 der Stand vom Juli 1989 erreicht. Immer ungenierter schießen die Banden ihre Meinungsverschiedenheiten auf offener Straße aus. Mitunter fallen den Maschinengewehrsalven gleich fünf oder sechs Menschen auf einmal zum Opfer, wie Ende April in Castelvolturno, als eine Gruppe von Immigranten dran glauben mußte, die in den Drogenmarkt eingestiegen waren. Oder die Killer rotten ganze Familien einschließlich der Kleinkinder aus, wie Mitte Mai in Neapel. In Städten wie Neapel gehen mittlerweile begüterte Touristen nur noch in Begleitung eigener Leibwächter aus dem Hotel.

Während der Kommunal-, Provinzial- und Regionalwahlen im Mai zeigte sich erstmals ganz deutlich, daß die kriminellen Banden auch auf dem politischen Terrain die Vormacht beanspruchen: nicht weniger als elf Kandidaten der verschiedenen Parteien wurden zwischen Neapel, Reggio Calabria und Palermo in Hinterhalte gelockt oder auf offener Straße erschossen. Außerdem mußte ein aufrechter Beamter der sizilianischen Inselverwaltung sterben, der bereits mehrere Male wegen Unbeugsamkeit versetzt worden war. „Eine Mordrate bei Kommunalwahlen, wie sie nicht einmal Bananenrepubliken aufweisen“, entsetzte sich 'La Repubblica‘. Erstmals in der Geschichte Italiens haben die Clans eindeutig klargemacht, daß sie nicht nur im Untergrund herrschen - sie bestimmen auch, wer in den Stadt- oder Regionalrat einzieht (und damit an die heißbegehrten öffentlichen Gelder herankommt).

Roms Innenminister präsentiert sich nach solchen Taten stets sehr entschlossen - „doch wenn man z.B. nachfragt, was aus dem geplanten Einsatz des Heeres gegen Banditen im calabresischen Aspromonte geworden ist“, murrt das Magazin 'L'Espresso‘, „dann sagt er, er habe sich davon überzeugt, daß sowas nichts bringt - aber eine Alternative hat er auch nicht parat“. Giorgio Bocca, Italiens meistgelesener Leitartikler, vermutet inzwischen sogar, daß der deutliche Wahlerfolg der antizentralistischen oberitalienischen „Ligen“ (in der Lombardei um Mailand stellen sie mehr als 20% der Gemeinderäte) weniger auf deren offensichtlichen Rassismus zurückzuführen ist als vielmehr auf den Unmut vieler Bürger, die für den Verlust der staatlichen Oberhoheit über den Süden vor allem die römischen Politiker, ihre Unentschlossenheit, oder sogar Verfilzung mit den Mafiainteressen verantwortlich machen.

„Schlimmer als

in Bananenrepubliken...

So gesehen macht auch Orlandos Attacke auf seinen Freund Falcone Sinn. Der erst 50jährige Ermittlungschef war gerade dabei, sich in den Obersten Richterrat wählen zu lassen das höchste Selbstverwaltungsorgan der Justiz - und damit seinen bisherigen Posten zu verlassen. Die römischen Lenker der Justiz, seit langem der sizilianischen Geschichten überdrüssig, hätten sich einen neuen Fahndungschef aussuchen können, der Falcones Dossiers gemächlicher bearbeitet und manche Untersuchung im Sande verlaufen läßt. Durch Orlandos Anwürfe könnte Falcone gezwungen sein, tatsächlich an seinem Platz zu bleiben - oder aber vor seinem Abgang die Schubladen aufzumachen und zu zeigen, was da alles drin ist.

Wer verzögert

die Ermittlungen?

Aufs Amtsgeheimnis zurückziehen kann sich Falcone jedenfalls nicht: nach Orlandos öffentlicher Anklage hat Staatspräsident Cossiga, ums Ansehen seines Landes kurz vor der europäischen Integration besorgt, die Generalstaatsanwälte und ihre Stellvertreter nach Rom bestellt, weil er „nun bald überhaupt nicht mehr versteht, was da im Süden abläuft“. Die Ermittler sollen ihm nun offenlegen, im Detail und mit Belegen, auf welcher Stelle ihre Ermittlungen derzeit treten. So oder so wird Orlando dann einen Erfolg verbuchen können: Sind die Ermittlungen anklagereif gediehen, dann müssen die Verfahren endlich eröffnet werden. Sind sie es nicht, dann schulden die Fahnder der Öffentlichkeit Antworten auf einige peinliche Fragen: Manche der Morde liegen nun schon ein gutes Jahrzehnt zurück.