Ungarischer Professor warnt vor monetaristischem Weg

Droht der neuen Demokratie durch die Arbeitslosigkeit Gefahr? Soziologieprofessor kritisiert in Ungarn verbreitete Illusionen über Monetarismus  ■  Aus Budapest Tibor Fenyi

Die größte Gefahr für die „Umgestaltung postkommunistischer Gesellschaften dürfte die falsche Handhabung der Arbeitslosigkeit sein“, behauptet Ivan Szelenyi, ungarischer Soziologieprofessor, der in den siebziger Jahren von dem damaligen Regime ins Exil getrieben wurde. Vor zwei Wochen wurde er zwar rehabilitiert und Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, doch auch heute entsprechen seine Thesen nicht unbedingt dem Mainstream der ungarischen Politik. Denn die neue Regierung unter Ministerpräsident Antall rechnet für die Zukunft gerade mal mit zwei bis drei Prozent Arbeitslosigkeit, eine Zahl, die der Professor keineswegs akzpetieren kann. Er sieht nämlich in dem Dilemma der postkommunistischen Regierung, einerseits den Staatshaushalt sanieren, die Inflation mit monetaristischen Methoden drücken und gleichzeitig eine Umstrukturierung der Ökonomie finanzieren zu müssen, keinen Spielraum, die Arbeitslosigkeit auf so niedrigem Niveau zu halten.

Immerhin konzediert Szelenyi im Einklang mit westlichen Experten den demokratisch gewählten Regierungen Ostmitteleuropas, daß die Bevölkerung den Preis für die Umwandlung der Wirtschaft, die Arbeitslosigkeit, in hohem Maße akzeptieren wird. Doch warnt er auch davor, die Leidensfähigkeit der Menschen zu überschätzen. Denn nicht einmal die vom Internationalen Währungsfonds prognostizierten acht Prozent Arbeitslose sieht er für Ungarn als realistische Orientierungsgröße an.

Diese acht Prozent orientierten sich an den Maßstäben der Länder der Europäischen Gemeinschaft, die den Umstrukturierungsprozeß der traditionellen Industrien schon hinter sich haben. Großbritannien - und mit diesem Beispiel schwingt bei Szelenyi auch ein bißchen Kritik an den Monetaristen der ehemaligen ungarischen Opposition mit habe unter Margret Thatcher mehr als zwanzig Prozent Arbeitslosigkeit produziert. Und ein Drittweltland wie Bolivien habe nach der monetaristischen Schocktherapie vorübergehend eine Arbeitslosigkeit von über fünfzig Prozent hinnehmen müssen.

Was würde also geschehen, wenn sich Ungarn der reinen monetaristischen Lehre verschriebe? Wahrscheinlich dasselbe, was in den Slums der USA passiert ist. Die dort lebenden Menschen hätten aufgrund ihrer mangelnden Ausbildung keinen Zugang zum Arbeitsmarkt mehr. Dort habe sich eine Unterklasse gebildet, die kaum noch über Zukunftschancen verfügt. Diesselbe Gefahr bedrohe einen beträchtlichen Teil der Arbeitnehmer über 45 Jahren in Ungarn, in einer Gesellschaft, in der schon heute ein Drittel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt, die Sozialversorgung unterentwickelt ist und angesichts der Ebbe im Staatshaushalt auch keine Aussicht auf Besserung des Sozialsystems besteht.

Ist der Hinweis auf Entwicklungsländer und kapitalistische Randbezirke schon ein neuer Ton in der ungarischen Diskussion, so ist es die Analyse der politischen Konsequenzen, vor denen Szelenyi warnen will, um so mehr. Der Druck der Weltbank werde zunehmen, klagt der Professor und prognosiziert den Ausverkauf der heimischen Industrie an das westliche Kapital, das am „schnellen Geld“ interessiert sei.

Diese Faktoren zusammengenommen würde die Entwicklung einer neuen „Unterklasse“ beschleunigen, so Szelenyi, die Gefahr neuer sozialen Spannungen würde steigen. Die Deklassierung könnte sich in nationalistischen Auseinandersetzungen und dem Ruf nach rechts-nationalistischen, antidemokratischen Regierungen Luft machen, warnt der Professor.

Als Gegenmittel schlägt Szelenyi die Entwicklung einer Sozialpolitik vor, die es nicht zuläßt, daß bestimmte Gesellschaftsschichten ins Abseits gedrängt werden. Umschulungsprogramme müßten für alle offen sein. Der Westen könne auch kein Interesse daran haben, daß in Osteuropa der roten Diktatur nun die nationalistisch ausgerichteten Diktaturen folgen. Der Übergang zur Demokratie dürfe den Bürgern Osteuropas keineswegs nur Rezession, Arbeitslosigkeit und unerschwingliche Preise bringen.

Doch einen praktisch umsetzbaren Ausweg aus dem Dilemma konnte Szelenyi auch nicht zeigen. Noch sind keine Programme Westeuropas konkretisiert, die den sozialen Bedürfnissen der östlichen Gesellschaften entgegenkommen. Der Hinweis darauf, daß die Menschen nach dem Kommunismus nun auch die Demokratie als bloße Illusion betrachten müßten, läßt auch das gemeinsame Europa als Illusion erscheinen.