Lob des Nein

Nachtrag zum jüngsten Streit um Lafontaine  ■ K O M M E N T A R E

Die bundesdeutsche Öffentlickeit hat den vorerst letzten Konflikt vor der Sommerpause, in den der Kanzlerkandidat seine Partei gestürzt hat, mit einer Mischung aus Häme, Sorge und mißmutiger Bewunderung quittiert. Die 'FAZ‘ mokiert sich zwar über die „Kaprizen“ von Lafontaine, vermutet aber gerade in eben diesen die Chance für einen denkbaren Wahlerfolg im Herbst. Der Streit um die Spielarten zwischen Nein, Jein und Ja zum Staatsvertrag war gewiß peinlich für die SPD, doppelt peinlich war er aber für die Öffentlichkeit in der Bundesrepublik. Sie bangt einerseits um des Kanzlerkandidaten Lust an der Politik. Denn das nerventötende Querpaßspiel zwischen Regierung und Opposition, seitdem die Einheit der Deutschen auf der Tagesordnung steht, haben alle gründlich satt. Man spürt eine tiefe Beunruhigung, daß diese große historische Aufgabe mit einem derartigen Mangel an politischen Alternativen, an Prinzipienstreit und Leidenschaft angegangen wird. Andererseits reagieren unsere Meinungsmacher mit ungebremstem Widerwillen auf das unkeusche Angebot, über die Fragen der deutschen Vereinigung in einen grundsätzlich Streit zu treten. Die Öffentlichkeit begleitet träge den mainstream. Es herrscht das unausgesprochene Tabu, wonach die DDR-Bevölkerung, die sich jetzt auf die schweren Prüfungen der Marktwirtschaft rüstet, nicht noch durch politische Grundsatzdebatten chaotisiert werden darf.

Natürlich hat Lafontaine Parteipolitik gemacht, natürlich hat der Kandidat seine Partei überprüft. Aber es ist gar keine Frage, daß seine Kritik am Staatsvertrag ernstgemeint ist und ernstgenommen werden muß. Er hat in diesem Streit nichts mehr aber auch nichts weniger getan, als die Ehre des Nein in der Politik zu retten. Seitdem die DDR-Übersiedler den Wohlstandsbürger zu irritieren begannen, ist die Deutschlandpolitik eine Politik der Sachzwänge. Der DDR -Bürger, unberechenbar wie er ist, muß an seinen Ort gebunden werden. Deswegen muß es schnell gehen, muß der Staatsvertrag über die Bühne. Natürlich schafft man mit Sachzwängen Sachzwänge. Es ist auf jeden Fall zu spät, noch den Staatsvertrag in Frage zu stellen. Aber das herrschende Chaosverbot ist inzwischen auch ein Denkverbot. Gerade weil die Sachzwänge der Währungsunion inzwischen die Politik beherrschen, müssen grundsätzliche Einwände umso mehr formuliert werden. Was ist so unsinnig an dem Ansinnen Lafontaines, im Bundestag das Nein der SPD-Fraktion zu fordern, und trotzdem den Staatsvertrag passieren zu lassen? Auch das Bundesverfassungsgericht veröffentlicht ja Minderheitsvoten. Es ist ein erbärmliches Demokratieverständnis, wenn für große politische Aufgaben große Koalitionen gefordert werden statt deutliche Opposition. Auch wenn man Lafontaine als Taktiker bewundert, sollte man sich deswegen nicht hindern lassen zu erkennen, daß er auch recht hat. Er hat ein wenig politischen Spielraum zurückerobert. Daß er ihn zu allererst nutzen wird, spricht nicht dagegen.

Klaus Hartung