Auf der Suche nach einer neuen Form der Solidarität

Hennig Melber ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Gesamthochschule Kassel, seit 1974 Swapo-Mitglied und im Vorstand der Informationsstelle südliches Afrika (Issa)  ■ I N T E R V I E W

taz: Ist die Solidaritätsbewegung mit Südafrika am Ende ihres Lateins?

Henning Melber: Ich hoffe nicht, daß sie am Ende des Lateins ist - außerdem, die Solidaritätsbewegung zu Südafrika gibt es meiner Meinung nach ohnehin nicht. Es hat immer unterschiedliche Teile gegeben und einige von ihnen kommen in der Tat in schwierige Verhältnisse. Wenn ich an die Anti -Apartheids-Bewegung denke, die sich explizit über Jahre hin als eine Ein-Punkt-Bewegung definiert hat und damit ein sehr enges und teilweise auch produktives Verständnis von sehr praktisch orientierter Solidarität geübt hat, kommt sie nun zunehmend in Schwierigkeiten, ihre Rolle zu definieren. Die Machtveränderungen im südlichen Afrika führen dazu, daß sich beispielsweise über den Weg der Verhandlungen die Frage der künftigen Machtverhältnisse neu definieren. Die herkömmlichen Partner, die das einfache Projektionsbild abgaben, werden sich vermutlich auch verändern. Dann stellt sich die Frage, mit wem hält man es wie in der Zukunft.

Sie haben so etwas wie den kleinsten gemeinsamen Nenner eingeklagt.

Ich meine, daß man den kleinsten gemeinsamen Nenner in der Solidaritätsarbeit suchen sollte, der so grundsätzlich ist, daß er sowohl für die eigene Gesellschaft, wie auch in allen anderen Gesellschaften Gültigkeit hat. Dies wären beispielsweise die Menschenrechte.

Wie könnte für Südafrika Solidaritätsarbeit denn jetzt noch aussehen?

Man muß mehr informieren. Fast alle gesellschaftlichen Kräfte des Widerstands in Südafrika haben eine Pressuregroup in der Bundesrepublik. Aber nur innerhalb der jeweiligen Pressuregroup werden die Ziele der einzelnen Bewegungen und die theoretischen Diskussionen, die dort stattfinden, überhaupt bekannt. Das sind sehr eindimensionale Verbindungen. Aber man muß darauf vertrauen, daß die Mehrheit in Südafrika sich selbst dafür entscheidet, welcher in ihrer historischen Situation für sie der geeignete Weg ist. Das müssen wir nicht als Handlanger und Stellvertreter hier austragen.

Eigentlich müßte doch die Situation des Wandels in Südafrika auch eine Chance sein.

Ich hoffe, daß dies so begriffen wird. Ich hatte auch das Gefühl, daß die Veränderungen herkömmliche Wahrnehmungsmuster in Frage stellen, daß Veränderungen im positiven Sinne von Öffnung, von stärker differenzierender Wahrnehmung möglich sein wird. Andererseits geht es um den Verlust von Identitäten. Manche Leute laufen Gefahr, daß ihnen das Objekt ihrer Solidarität abhanden kommt.

Welche Perspektiven können Solidaritätsbewegungen angesichts der weltweiten ökonomischen und politischen Neustrukturierungen haben?

Die augenblicklichen Entwicklungen werden weder von ihnen bestimmt noch von irgendwelchen Triebkräften einer Revolution, sondern von einer neuen Qualität einer kapitalistischen Weltordnung. Man muß versuchen, nicht nur darauf zu reagieren, sondern über eine Neudefinition der Aufgaben und des Verständnisses sowohl hinsichtlich der eigenen Rolle als auch des Befreiungsprozesses in der Dritten Welt zu einem neuen Aufgabenkatalog zu kommen. Möglicherweise ist ein Resultat davon, daß der bisherige Partikularismus, also die Aufsplitterung länderbezogener Solidaritätsarbeit, zumindest teilweise relativiert wird, die Verflechtung größer wird, weil nämlich die Fragestellungen in Lateinamerika oder für verschiedene Regionen Afrikas durchaus gemeinsame Punkte haben, die man bisher allzusehr ignoriert und vernachlässigt hat. Und es bedeutet, daß man noch stärker die gesellschaftliche Rolle im eigenen bundesdeutschen oder gesamtdeutschen Kontext reflektiert. Vor zwanzig Jahren gab es mal eine Zeit, wo dieses Bewußtsein vorhanden war, aber über die ersten Erschütterungen des naiven Revolutionsglaubens - Stichwort Vietnam - ging diese Tradition wieder unter. An diesem Verständnis internationaler Solidarität müssen wir anknüpfen: Ein Internationalismus für die eine Welt, die wir haben.