Die Koalitionsbruch-Drohung ist stumpf geworden

■ Mit dem 9. November traten die unterschiedlichen Politikmodelle von Sozialdemokratie und Alternativer Liste zutage

Die mit der rot-grünen Koalition verbundenen Erwartungen sind über weite Strecken enttäuscht worden. Morgen wird eine AL-Mitgliederversammlung über die weiteren Perspektiven von Rot-Grün entscheiden. Die Stimmung ist schlecht. Viele Mitglieder haben sich bereits festgelegt: Sie fordern den Ausstieg und tun dies mit guten Gründen. Die Koalition ist zerrüttet. Wie konnte es dazu kommen?

Im Januar '89 gewann die SPD die Wahlen mit einer auf sozialen und gesellschaftlichen Ausgleich setzenden Strategie. Es gelang ihr, die in der Brot- und Spiele-Kultur des Hassemer-Diepgen-Senats zu kurz gekommenen und an den Rand gedrängten konkreten Lebensbedürfnisse der „kleinen Leute“ gegen die herrschende großstädtische Selbstbeweihräucherung zu mobilisieren. Indem sie gegen einen Metropolenkult antrat, der über die sich zuspitzenden soziokulturellen Spannungen und die zunehmende Umweltzerstörung gleichgültig hinwegging, traf sie die wirkliche Stimmung in der Stadt. Gleichzeitig war damit der Boden für ein Bündnis mit der AL bereitet. Der Schnittpunkt beider lag in dem Interesse an einem Ausgleich der sozialen und kulturellen Gegensätze, der sich vor allem um die bisher zu kurz Gekommenen bemühte, sowie im Wunsch nach einem schonenderen Umgang mit den natürlichen Grundlagen auch der großstädtischen Lebensmilieus.

Schon im Herbst vergangenen Jahres wurde aber schnell klar, daß die Rede von der Jahrhundertchance allzu optimistisch gewesen war. Angesichts der von CDU und „Republikanern“ mobilisierten ausländerfeindlichen Ressentiments wurde die Achillesferse des neuen Reformblocks deutlich sichtbar. Die SPD sah ihre Integrationsfähigkeit gegenüber der eigenen Arbeiterwählerklientel gefährdet. Momper setzte auf „Befriedung“ durch Zurückweichen. Der mit dem rot-grünen Reformprojekt versuchte gesellschaftliche Spannungsbogen war an seinem empfindlichsten Punkt zerbrochen. Die alten Gegensätze zwischen dem radikaldemokratisch-pluralistischen Bewegungsmilieu der AL und dem traditionell sozialdemokratischen Klientel traten wieder offen zutage.

Mit dem 9. November kam die eigentliche Wende: Seit ihrem Berliner Programmparteitag versuchte sich die SPD selbst zum Vorreiter der überstürzten deutschen Einheit zu machen. Rot -Grün hat in dieser strategischen Option keinen Platz. Was sind die Gründe für den sozialdemokratischen Strategiewechsel? Er ist der Ausdruck zweier grundlegend verschiedener gesellschaftlicher Konsens- und Integrationsmodelle, die die sozialdemokratische Politik schon seit Noske prägen. Die mit dem überstürzten Anschluß auch in West-Berlin heraufbeschworenen Verunsicherungen und sozialen Spannungen erzwangen ein neues Modell der autoritären Konfliktbewältigung. Die SPD versuchte, in der eigenen Klientel grassierende Ängste durch das öffentliche Zelebrieren der Macht und des Machtmanagements zu bannen. Momper mutierte vom bundesweit bewunderten volksnahen Reformbürgermeister zum unablässig mit den „historischen Staatsgeschäften“ beschäftigten „König Momper“. Die AL reagierte auf diese Situation hilflos. Sie hielt - trotz Regierungsbeteiligung - an ihrem bisher erfolgreichen Politikmodell fest. Für sie blieb klar: Nur über die polarisierende Zuspitzung gesellschaftlicher Konflikte kann eine Verallgemeinerung der eigenen Forderungen und Ziele durchgesetzt werden. Problematisch wurde dieses Politikkonzept erst dadurch, daß von der rot-grünen Koalition erwartet wurde, diese am Modell der außerparlamentarischen Bewegungen gewonnene Strategie auch auf die Ebene des Regierungshandelns zu übertragen. Daß dies für eine Volkspartei wie die SPD ein vollkommen ungangbarer Weg sein würde, und daß man sich deshalb um ein arbeitsteiliges Nebeneinander zwischen dem typisch sozialdemokratischen Weg des Konfliktsausgleichs und der eigenen Politisierungsstrategie bemühen müsse, blieb unverstanden. Statt dessen verlegte man sich darauf, gebetsmühlenartig von der SPD die Umsetzung der an die Koalition geknüpften eigenen Hoffnungen zu verlangen. Anstatt sich auf die einzig mögliche Strategie: „Getrennt marschieren, vereint schlagen“ zu besinnen, wurde versucht, mit der Drohung des Koalitionsbruchs aus der Sozialdemokratie etwas anderes zu machen, als was sie ist und nur sein kann. Als die SPD dann ihre strategische Grundorientierung wechselte und zu einer faktischen Alleinregierung überging, war die Drohung „Bruch der Koalition“ zu einer stumpfen Waffe geworden.

Der autokratische Regierungsstil Mompers blieb auch in der SPD nicht ohne Widerspruch, die SPD-Basis sieht sich um ihre Reformhoffnungen betrogen. Schon bei der Entscheidung zur Stromtrasse und insbesondere bei der „niederschlagung“ des Kita-Streiks gab es scharfe innerparteiliche Kritik. Mehrere Bezirksverbände fordern inzwischen, daß der Forschungsreaktor im Hahn-Meitner-Institut unter keinen Umständen in Betrieb genommen werden darf. In der Ausländerpolitik gehen Fraktion und Partei immer deutlicher auf Opposition zur Senatspolitik. Mit dem jüngst von Momper unternommenen Versuch, drei seiner SenatorInnen auch in den Ostberliner Magistrat wählen zu lassen, sollte noch einmal gezeigt werden, daß es die SPD ist, die das Zusammenwachsen Deutschlands schneller und effizienter zu organisieren weiß. Angesichts der ihm über den Kopf wachsenden Widersprüche versuchte Momper eine Art Befreiungsschlag. Auch die SPD -Fraktion erfuhr erst aus der 'BZ‘ von der geplanten „Machtübernahme“ in Ost-Berlin. Mit einem Schlag sollte der Koalitionspartner und die eigene Fraktion entmachtet werden.

Trotz der auch von der AL gemachten Fehler: Die Berliner Koalitionskrise ist keine Krise der AL, sondern der SPD. Sie muß sich klar werden, ob sie den vor einem Jahr vereinbarten Reformkurs weiterverfolgen will oder nicht. Die Schlüsselfrage lautet: Soll bei den kommenden Wahlen weiterhin Akzeptanz nur durch ein öffentlich zelebriertes Machtmanagement oder durch eine erneute reformpolitische Mobilisierung gewonnen werden? Für die AL gibt es diese Alternative nicht. Sie ist und bleibt die Partei der gesellschaftlichen Reformbewegungen. Deswegen kann sie sich, im Gegensatz zur SPD, ein einfaches „Augen zu und weiter so“ nicht leisten. Trotzdem besteht keine Notwendigkeit, daß die AL sich auch die inneren Konflikte der SPD zu lösen anschickt, indem sie sie aus der Koalition entläßt. Sie würde dabei selbst in innere Auseinandersetzungen geraten, die zu einer für die ganze Partei tödlichen Zerreißprobe werden können. Es muß verhindert werden, daß die öffentliche Debatte um die inhaltliche Ausgestaltung des rot-grünen Bündnisses zu einer Debatte um die Identitätsängste der AL herabgestuft wird. Willi Brüggen, Mitglied des

Parteivorstandes der A