Die Wiedergeburt des Enzo Scifo

Beim 2:0-Sieg Belgiens über das Team aus Südkorea führte der Sizilianer im belgischen Dress brillant Regie  ■  Aus Verona Matti Lieske

Die größte Enttäuschung des Nachmittages war eindeutig das Wetter. Alle waren so gespannt auf die heißgeliebte Sonnenbrille des belgischen Torwarts Michel Preud'homme gewesen, und darauf, ob der Schiedsrichter sie denn auch dulden würde. Aber bei einer dichten Wolkendecke und 85 Prozent Luftfeuchtigkeit sah selbst Preud'homme ein, das seine neue Torwartmode an diesem Tag ein wenig deplaziert gewesen wäre.

Sein Tor hielt er auch so sauber, was gar nicht mal selbstverständlich war, denn die Südkoreaner verfügen über zwei exquisite Sturmspitzen: den kopfballstarken Hwang Seon -Hong und vor allem ihren Star, Kim Joo-Sung, der von Statur und Haartracht wie eine Mischung aus jenem „Attila“ genannten Engländer und einem spätgeborenen George Best wirkt. „Es gefällt mir, die Haare lang zu tragen“, sagt der ballfertige Stürmer, dessen Spielweise den belgischen Trainer Guy Thys wiederum an Marco van Basten erinnert, „und alles, was mir gefällt, gibt mir Stärke.“ Ein asiatischer Samson also, der die Kraft, die aus den Haarspitzen kommt, während der WM-Qualifikation in sieben Tore umgemünzt hat.

Daß der 24jährige gegen Belgien nicht traf, lag vorwiegend an unpräzisen Zuspielen aus dem Mittelfeld, welches fast ausschließlich einem anderen 24jährigen gehörte: Vincenzo Scifo, dem Belgier mit dem sizilianischen Elternhaus, der bei dieser WM seine fußballerische Wiedergeburt feiert. Mit 16 hatte Scifo bereits in der ersten Mannschaft des RSC Anderlecht gespielt, 1984 dribbelte er bei der EM in Frankreich ungestüm auf die internationale Fußballbühne und galt damals neben Gullit als das größe Talent des europäischen Fußballs. Doch die Platzhirsche im belgischen Team mochten den frechen Emporkömmling nicht und machten ihn systematisch fertig, so daß er bei der WM in Mexiko weit unter seinen Möglichkeiten blieb. „Sicher, er kann viele tolle Sachen“, höhnte etwa Rene Vandereycken, „nur macht er sie immer im falschen Moment“. Und Torhüter Jean-Marie Pfaff posaunte herum, daß es ihm keinen Spaß mache, mit einem zusammenzuspielen, der Angst habe, sich dreckig zu machen.

Den Durchbruch sollte ihm 1987 sein Engagement bei Inter Mailand bringen, doch schon nach einer einzigen mittelmäßigen - Saison wurde er in einer Nacht- und Nebel -Aktion nach Frankreich abgeschoben und durch Lothar Matthäus ersetzt. „Ohne irgendetwas zu kapieren, fand ich mich plötzlich in Bordeaux wieder“, staunt Scifo noch heute. Dort ging es dann völlig bergab, zeitweise spielte er sogar in der dritten Mannschaft. Erst der Wechsel zu Auxerre spülte ihn wieder nach oben. „Als ich zu Inter kam, war ich noch zu sehr Kind, für Bordeaux war ich zu gut. Aber jetzt habe ich alles begriffen“, lautet sein Resümee dieser Periode. In Auxerre wurde er wieder zu dem Spielgestalter, der er schon einmal mit 17 gewesen war.

Im Bentegodi-Stadion von Verona machte Scifo gegen Südkorea ein großes Spiel. Tatsächlich war er überall, und es war ein Wunder, daß er nicht noch ab und zu im belgischen Fanblock vorbeischaute, der ihn begeistert feierte. Viele Bälle erkämpfte er sich selbst, er war immer anspielbar und glänzte mit genauen Zuspielen, Flanken und virtuosen Einzelaktionen. Scifo war eindeutig der gute Geist hinter etlichen schönen Kombinationen der Belgier, die schließlich zwei Tore und jede Menge Chancen erbrachten. In der 55. Minute spielte Scifo einen himmlischen Paß auf Marc Degryse und der überlupfte Keeper Choi In-Young, der weit aus seinem Tor herausgelaufen war, eine Untat, an deren Aufklärung sich jeder Kriminologe die Zähne ausbeißen würde, denn es fehlte jegliches Motiv. Der Ball fiel ins Tor und den Belgiern, in Angedenken an Argentinien und Schottland, ein Felsen vom Herzen. Der zweite Treffer durch den Skinhead-verdächtigen Michel de Wolf, ein 17-Meter-Schuß in den linken oberen Torwinkel, wäre selbst mit Sonnenbrille unhaltbar gewesen.

Damit war die Partie entschieden. Die belgischen Fans frohlockten Giuseppe Verdis Triumphmarsch, während der koreanische Block mit heimischem Liedgut brillierte. Auf dem Rasen gehörten die letzten Minuten allein Enzo Scifo, der es bei zwei Riesentorchancen verpaßte, sich selbst das schönste Wiedergeburtstagsgeschenk zu machen.

Belgien: Preud'homme - Clijsters - Gerets, Demol, de Wolf van der Elst, Emmers, Scifo, Versavel - Degryse, van der Linden (46. Ceulemans)

Südkorea: In-Young Choi - Myung-Bo Hong - Yong-Hwan Chung, Kyung-Joon Park - Kang-Hee Choi, Soon-Ho Choi, Sang-Bum Gu, Young-Jin Lee (46. Min-Kook Cho), Joo-Sung Kim, Soo-Jin Noh (63. Tae-Hoo Lee) - Seon-Hong Hwang

Zuschauer: 32.798

Tore: 1:0 Degryse (53.), 2:0 de Wolf (64.)