Bahro vor Gericht: Eine „Farce ohne Substanz“

Präpariertes Kassationsverfahren im Falle Rudolf Bahros („Die Alternative“) begann gestern / Gysi: Das Buch wäre eine Chance für den Sozialismus gewesen / Bahro: „Honecker hatte recht, ich habe die Konterrevolution mitorganisiert“  ■  Aus Berlin Klaus Wolschner

In dem schmucklosen Gerichtssaal ist das Enblem der DDR an der Stirnseite abmontiert, die Spuren davon sind nur schlecht übermalt. Fünf Richter sitzen vorn, etwas erhöht. Wie lange dienen diese Herren mittleren Alters schon Recht und Gesetz? Gestern saßen sie dort über vergangenem Recht zu Gericht.

Der berichterstattende Richter faßt zusammen, was 1978 für Recht gesprochen wurde. Wie in einer Probe wenig eingespielter Schauspieler liest er Wort für Wort ab von einem vorbereiteten Redemanuskript. Der DDR-Bürger Rudolf Bahro hatte sein Buchmanuskript für Die Alternative an den Kölner Gewerkschaftsverlag EVA gegeben und verschwiegen, daß er 48 Interviews mit sozialistischen Managern und Ökonomen (den Anhang zu seiner - abgelehnten - Dissertation) in neun Durchschriften weitergegeben hatte, bevor sie zur „vertraulichen Verschlußsache“ erklärt wurden. Bahro war wegen „Übermittlung von Nachrichten“ und „Geheimnisverrat“ zu acht Jahren Gefängnis verurteilt, 1979 in die BRD abgeschoben worden.

Der Vertreter des Obersten Gerichtshofes begründet den Antrag, dieses Urteil aufzuheben. Auch er liest ab, Wort für Wort. „Generell fehlerhaft“ sei die Rechtsauslegung des Berliner Stadtgerichtes damals gewesen. Bahro habe mit dem von ihm zusammengetragenen Material nicht den „Kampf gegen die DDR unterstützen wollen“, vielmehr sei seine Arbeit durch die DDR-Verfassung als „Freiheit der Meinungsäußerung“ gedeckt gewesen.

Der Stellvertreter des Generalstaatsanwaltes stimmt zu. „Aus der Sicht des Juni 1990“ sei gröbliches Unrecht passiert. „Die Fehlleistung von Staatsanwalt und Gericht ist peinlich und beklagenswert.“

Auch heute sitzen die Vertreter von Staatsanwaltschaft und Oberstem Gericht auf einer Bank nebeneinander. Rudolf Bahro und sein damaliger wie jetziger Anwalt Gregor Gysi hören regungslos, wie es vor Gericht üblich ist, zu. Der Anwalt Gysi erinnert an sein damaliges Plädoyer. Der PDS -Vorsitzende Gysi meint, Bahros Alternative hätte möglicherweise die „Chance für einen wirklichen Sozialismus“ bedeutet.

„Herr Bahro, Sie haben das letzte Wort. Wenn Sie wollen“, sagt der amtierende Präsident des Obersten Gerichtes. Bahro nickt leise, schluckt, blickt freundlich auf. „Es liegt der Gedanke nahe, daß die Justiz der Irrtum ist“, sagt er. Das Verfahren „damals“ sei eine Farce gewesen, allerdings eine mit Substanz. Honecker habe, rückblickend gesehen, eigentlich Recht gehabt. „Ich habe die Konterrevolution mitorganisiert mit der Alternative“, gestand Bahro, um gleich zu relativieren: Der Begriff Konterrevolution sei auch ein Irrtum. „Hier steht eine Arbeit der Annahme von Realitäten vor uns.“ Was 1917 angefangen hat, sei zu Ende: „Der Realsozialismus war tatsächlich so beschaffen, daß Kritik den Abgang des Ganzen zur Folge haben würde.“

Bahro, das Justizopfer, geht mit seiner eigenen Rolle ins Gericht. Er sei am 21.August 1968 nicht ausgetreten aus der SED, er habe damals die Reform von oben gewollt und sei sich in einer Art „Machttrip“ als der bessere Generalsekretär, zumindest Chefredakteur des 'ND‘, vorgekommen. „Ich hatte nicht vor der Verhaftung Angst, sondern davor, erwischt zu werden, bevor ich berühmt geworden bin.“ Die „Bereitschaft, mitzuspielen“, sei das Gefährliche. „Wer von Ihnen sieben war damals schon juristisch verantwortlich? Ich glaube nicht, daß Sie ein anderes Urteil getroffen hätten“, erklärt Bahro seinen neuen Richtern. Dieses Verfahren sei eine „Farce ohne Substanz“.

„Gibt es Fragen?“, fragt der amtierende Präsident des Obersten Gerichtes der DDR, Dr.Körner. Vor dem 9.November war er Stellvertreter des Präsidenten des Obersten Gerichtes. Es gibt keine Fragen. „Das ist nicht der Fall. Dann ist das Verfahren zur Beratung unterbrochen.“ Am 15.6. wird er als Ergebnis der Beratung verkünden, daß das Recht von 1978 Unrecht war und Bahro eine Entschädigung gezahlt bekommt.