Inge Viett in der DDR verhaftet

■ Die frühere RAF-Frau lebte über zwei Jahre lang unentdeckt in der DDR - zuletzt in Magdeburg / Von G. Rosenkranz

In der DDR wurde zum zweitenmal innerhalb kürzester Zeit ein über lange Jahre gesuchtes Mitglied der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) verhaftet: Inge Viett. Die 46jährige, die in den 70er Jahren als Mitglied der „Bewegung 2.Juni“ den bewaffneten Kampf aufnahm, wird zahlreicher Delikte beschuldigt, darunter auch Mordversuch an einem Polizisten. Doch sie scheint der militanten Szene den Rücken gekehrt zu haben: Seit über zwei Jahren lebte sie in der DDR, zuletzt arbeitete sie in einem Magdeburger Stahlkombinat.

Mit der Festnahme von Inge Viett in Magdeburg wird zur Gewißheit, was manche im bundesdeutschen Sicherheitsapparat schon lange ahnten, vielleicht wußten: Über ein volles Jahrzehnt diente die DDR ausstiegswilligen Westmilitanten aus der RAF und der „Bewegung 2. Juni“ als Auffanglager. Die gescheiterten Revolutionäre scheitern ein zweites Mal. Jetzt bei ihrem Versuch, im Schutz der Mauer ein neues, bürgerliches Leben aufzubauen. Ihr Refugium wurde zur Falle, weil das geschah, was (nicht nur) sie sich jenseits des „antifaschistischen Schutzwalls“ so inbrünstig gewünscht hatten - der Aufstand der Massen gegen das autoritäre System. Ein Treppenwitz der Geschichte, wartete nicht im Westen eine erbarmungslose Justiz, die Susanne Albrecht und andere „Schwerstkriminelle“ auch zehn Jahre nach ihrem Abschied vom bewaffneten Kampf „angemessen“ bestrafen will.

Auf Seiten der deutsch-deutschen Sicherheitsbehörden wurde der gestrige Mittwoch zum zweiten Festtag binnen einer Woche. DDR-Innenminister Peter-Michael Diestel freute sich über einen weiteren großen Erfolg der Zusammenarbeit des Zentralen Kriminalamtes der DDR mit dem Bundeskriminalamt und dankte den „beteiligten Kriminalisten für ihre hervorragende Arbeit“. In Karlsruhe beeilte sich Generalbundesanwalt Alexander von Stahl mit seinem Antrag auf „Zulieferung“ der festgenommenen Inge Viett auf der Grundlage eines Haftbefehls von 1983. Und in Hamburg hofft Verfassungsschutzchef Christian Lochte auf „noch mehr Festnahmen“ in den kommenden Tagen.

Lochte wähnt mindestens acht, wenn nicht mehr ehemalige Militante in der DDR. Die Zahl acht war 1988 in einer Polemik der RAF gegen den abtrünnigen Peter Jürgen Boock enthalten gewesen, in dem vom „organisierten Exils“ außerhalb Westeuropas für jene Aussteiger die Rede war, die nach den Anschlägen von 1977 und insbesondere der Entführung der Landshut-Passagiermaschine nach Mogadishu während der Schleyer-Entführung nicht mehr mitmachen wollten. Die Lösung für die AussteigerInnen, hieß es in dem RAF-Pamphlet, „war eine gute Sache“. Für Lochte heute ein klarer Hinweis auf die DDR.

Die Festnahme in Magdeburg scheinen die Behörden allerdings weniger ihrer allseits gelobten „hervorragenden Zusammenarbeit“ zu danken zu haben, als vielmehr der schlichten Tatsache, daß wenige Tage zuvor Fahndungsplakate in der Stadt ausgehängt wurden. Prompt kam der entscheidende Hinweis auf „Eva Schell“ aus der Bevölkerung. Ihre Beobachtung allerdings mochten die DDR-Bürger nicht der Polizei in Magdeburg mitteilen. Ihre Anzeige erstatteten sie jenseits der Grenze, in Braunschweig.

Überhaupt entwickelt sich die DDR-Bevölkerung allmählich zum einig Volk von RAF-Fahndern. In Dresden wollen „Etagennachbarinnen“ nach einem Bericht der 'Dresdner Morgenpost‘ Silke Maier-Witt auf Fahndungsfotos wiedererkannt haben. Unter dem Namen Eva-Maria S. soll die im Zusammenhang mit der Schleyer-Entführung Gesuchte jahrelang erst in einem Arbeiterwohnheim, dann im Neubauviertel Dresden-Prohlis gelebt haben. Dieselben Nachbarinnen haben danach auch Sigrid Sternebeck wiedererkannt, die am versuchten Raketenwerferanschlag auf die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe 1977 beteiligt gewesen sein soll.

In dem Bericht findet sich auch der bisher einzige scheinbar konkrete Hinweis, daß die untergetauchten Westrevolutionäre mit neuer Identität der Stasi zu Diensten waren: Silke Maier-Witt alias Eva Maria S. soll nach den Angaben eines Kaderleiters des Dresdner Großbetriebs Zentrag für das Ministerium für Staatssicherheit als Reprofotografin ausgebildet worden sein. 1986 habe sie sich aus Dresden offenbar, weil sie fürchtete, erkannt worden zu sein verabschiedet. Für Christian Lochte ist klar, daß „weder Stasi noch KGB mit dem tätigen Terrorismus etwas zu tun haben“. Unterhalb dieser Schwelle allerdings seien die ehemaligen RAF- oder „2.Juni„-Kader „für alles gut“ gewesen. Schließlich hätten sie in der Schuld der Stasi gestanden und seien deshalb für den Mielke-Verein „immer ansprechbar“ geblieben. Daß sie von jenseits der Mauer allerdings Wesentliches zur Destabilisierung der Bundesrepublik beigetragen hätten, glaubt selbst der Verfassungsschützer nicht. Ein Blick auf die im 'Stern‘ veröffentlichten Fotos von Susanne Albrecht scheint ihn zu bestätigen. Die Dame, die da in Bluse und Blümchenrock ihren Kolleginnen den Kaffee einschenkt: immer noch eine Kämpferin gegen den US oder andere Imperialismen? Schwer vorstellbar. Die Vorstellung vom nahtlosen Übergang vom RAF- zum Stasi-Kader scheint auch aus einem anderen Grund wenig wahrscheinlich. Kenner der Szene sind sich sicher, daß nur eine Handvoll Stasi-Mitarbeiter mit der „Versorgung“ der Westdesparados überhaupt befaßt war.

Die bundesdeutschen Verfassungsschützer sind dem Stasi, der immerhin einige der militanten Gegner der kapitalistischen Variante deutscher Staatlichkeit endgültig aus dem Verkehr gezogen hat, dennoch gram. „Insgesamt“, sagt Lochte, „war es eine Stärkung der RAF, daß die DDR als Rückzugsgebiet zur Verfügung stand.“ Und noch etwas ärgert den Mann. Die Unterlagen über RAF-Zugänge aus der Bundesrepublik seien aus der Stasi-Abteilung „Hauptverwaltung Aufklärung“ längst „in die Dienststellen der Russen“ geschafft worden. Mit diesen Akten, weiß Lochte, „würde alles viel schneller gehen“.

Schließlich glaubt Christian Lochte auch die Antwort auf die naheliegende Frage zu kennen, warum die Untergetauchten nach dem für sie bedrohlichen Fall der Mauer nicht längst ihre Koffer gepackt haben: „Denen ist vermutlich gesagt worden, an ihre Akten kommt niemand ran.“